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der Menschheit. Damit scheint mir allerdings nicht viel gewonnen zu sein, da es eine objektive Feststellung, was Bestimmung der Menschheit sein soll, nicht gibt, der Willkür des Staates also doch wieder Tür und Tor geöffnet wäre. – Robert v. Mohl nimmt die Zweckbestimmung in seine Staatsdefinition auf. Er sagt:[1] „Der Staat ist ein dauernder, einheitlicher Organismus derjenigen Einrichtungen, welche, geleitet durch einen Gesamtwillen sowie aufrecht erhalten und durchgeführt durch eine Gesamtkraft, die Aufgabe haben, die jeweiligen erlaubten Lebenszwecke eines bestimmten und räumlich abgegrenzten Volkes, und zwar vom einzelnen bis zur Gesellschaft, zu fördern, soweit von den Betreffenden dieselben nicht mit eigenen Kräften befriedigt werden können und sie Gegenstand eines gemeinsamen Bedürfnisses sind.“ Die hier dem Staate zugeschriebenen Gemeinzwecke sollen also auf Grund der Kenntnis des einzelnen Volkes bestimmt werden. Der Begriff der „erlaubten Lebenszwecke“ ist allerdings ziemlich unbestimmt.[2] – v. Holtzendorff[3] unterscheidet einen dreifachen Staatszweck: den (nationalen) Machtzweck, den (individuellen) Freiheits- oder Rechtszweck und den (gesellschaftlichen) Kulturzweck. Der Machtzweck ist der ursprünglichste und natürlichste, der sich seit jeher überall im Volksbewusstsein behauptet hat. Unter dem Rechtszweck versteht v. Holtzendorff die „in festen Formen zu bewirkende Sicherstellung der persönlich freien Entwickelung des Menschen innerhalb der der Staatsgewalt nicht notwendig vorzubehaltenden Tätigkeitsgebiete.“ Den Kulturzweck bestimmt er als „die Bewahrung des gesellschaftlichen, vornehmlich wirtschaftlichen und konfessionellen Friedens.“

Haenel unterscheidet eine zweifache Aufgabe des Staates.[4] Zunächst den Rechtszweck; der Staat setzt sich die Aufgabe, das Recht den Kulturaufgaben des Volkes in allen seinen einzelnen Elementen anzupassen, entweder durch eigene Rechtserzeugung oder durch Feststellung der Bedingungen, unter denen das nicht staatlich erzeugte Recht von ihm anerkannt und geschützt wird. Ausserdem aber will der Staat auch an der Kulturentwicklung des Volkes als selbsttätiges Element mitwirken. Für diese Kulturentwicklung „erfüllt er überall durch seine Ordnungen, Verrichtungen und Veranstaltungen solche Bedingungen, welche nur durch eine zentralisierte Tätigkeit in planmässiger Leitung verwirklicht werden können, sei es dass ohne sie gewisse Kulturaufgaben überhaupt nicht oder doch nur unter Verschwendung zersplitterter Kräfte erreichbar sind.“ Zu allen Lebenszwecken, die der gesellschaftlichen Erarbeitung und Bearbeitung fähig und bedürftig sind, tritt der Staat in Beziehung; er bringt sie alle in ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Gemeinzweck, der also in diesem Sinne universell ist.

Nach der merkwürdigen, unter dem Namen „Herrschertheorie“ bekannten Lehre v. Seydels hat der Staat den Zweck, die Gesamtinteressen der in ihm vereinigten Menschen zu verfolgen.[5] Der Satz: salus populi suprema lex ist eine natürliche (keine rechtliche) Schranke für den Herrscherwillen; der Herrscher hat also nicht individuelle Interessen sondern die der Staatsangehörigen wahrzunehmen. Auf nähere Ausführungen lässt sich der Verfasser nicht ein. – Rehm deduziert den Zweck des Staates aus seinem Wesen als einer Gemeinschaft, die bestimmte Interessen hat.[6] „Schutz und Pflege der Gesamtinteressen der Staatsgenossen ist, ganz allgemein gesprochen, der Zweck des Staates.“ Die weiteren Erörterungen über die Frage verweist Rehm aus der Staatslehre in die Politik.

Aus der neuesten juristischen Literatur über den Staatszweck sei noch Krabbe[7] hervorgehoben. Die Aufgabe des Staates ist die Realisierung des „Gemeinschaftszweckes“; unter diesem ist die Sorge für das persönliche Leben der Menschen zu verstehen. Ohne Ordnung des Rechts ist aber die Verwirklichung dieses Zweckes nicht denkbar; deshalb ist im Gemeinschaftszweck primär die Rechtsverwirklichung enthalten, die Genussverwirklichung folgt daraus nur als sekundärer Zweck.


  1. Enzyklopädie der Staatswissenschaften. (2. Aufl.) 1872 S. 71.
  2. Vergl. auch v. Mohl, Die Polizeiwissenschaft. I. S. 3 ff.
  3. Prinzipien der Politik. (2. Aufl.) 1879. S. 232 ff.
  4. Deutsches Staatsrecht. I. S. 109 ff.
  5. Grundzüge einer allgemeinen Staatslehre. S. 8.
  6. Allgemeine Staatslehre, im Handbuch des öffentlichen Rechts. Einleitungsband II. S. 199.
  7. Die Lehre der Rechtssouveränität. Groningen 1906. S. 207 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/79&oldid=- (Version vom 10.7.2021)