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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Von Nationalökonomen, welche die Frage nach dem Staatszweck berühren, sei v. Philippovich erwähnt.[1] „Aufrechterhaltung der Rechtsordnung, der eigenen Macht im Innern und nach Aussen, Förderung der Kultur und Wohlfahrt“ sind die Betätigungsgebiete des Staates, und hier sind auch seine Aufgaben zu suchen. Der Verfasser weist besonders auf die enge Berührung hin, die zwischen den wirtschaftlichen Verhältnissen und allen übrigen Äusserungen des menschlichen Lebens besteht und immer bestanden hat, so dass der Staat stets auch diese Verhältnisse mittelbar oder unmittelbar beeinflusst.

5. Objektiv-partikulare Zwecktheorien.

Als überwunden können heute die objektiv-partikularen Zwecktheorien angesehen werden. Wenn man für einen einzelnen Staat einen ihm spezifischen, von der Geschichte zugeschriebenen Zweck aufstellt, z. B. für das Römerreich Eroberung und die Ausbildung des Privatrechts[2], so greift man politische oder geschichtliche Tatsachen heraus und verwechselt dies mit Zwecken. Dasselbe ist der Fall, wenn man auch heute noch gelegentlich von der „historischen Mission“ eines Staates spricht. Derartige Spekulationen haben im Rahmen moderner Forschung keinen Raum.

6. Die Organtheorie.

Endlich ist noch die Theorie zu erwähnen, die sagt, der Staat trage seinen Zweck in sich. Zu diesem Ergebnis müssen notwendig die Vertreter der Organtheorie kommen, wenn sie die naturwissenschaftliche Analogie konsequent zu Ende denken; für sie ist die Frage nach dem Zweck des Staates ebenso unsinnig wie die nach dem Zweck der Eidechse. Die Theorie behauptet damit nichts weniger als die Zwecklosigkeit des Staates. So Schelling,[3] Adam Müller[4] und viele andere.[5] Wie die Anfänge der Organtheorie überhaupt lässt sich auch die von ihr abhängige Zwecktheorie bis ins Altertum zurückverfolgen.[6]

Geleugnet wird der Staatszweck auch von einer bestimmten politisch gefärbten Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als deren Vertreter und Führer C. L. von Haller[7] gelten kann. Er sagt, die Staatsdefinitionen hätten alle den Fehler, dass sie einen erdichteten gemeinsamen Zweck der Staaten annehmen, während die Staaten als solche gar keinen gemeinschaftlichen Zweck hätten; es existiere nur eine Menge sehr verschiedenartiger Privatzwecke. Jellinek weist darauf hin,[8] dass sich unter der Hülle dieser Theorie eine konservativ-reaktionäre Ansicht verbirgt, die jede unbequeme Kritik des Bestehenden abwehren und die Verbreitung revolutionärer Ideen verhindern will. –

Bisher wurden die einzelnen Theorien erörtert, ohne dass auf ihre Fehler näher eingegangen wurde. Nun scheint mir noch, bevor ich auf die der modernen Staatsauffassung entsprechende Zwecktheorie eingehe, eine kurze Kritik der wichtigsten der besprochenen Lehren angezeigt.

§ 3. Kritik der wichtigsten Theorien.

Die Wohlfahrtstheorie, so schön sie auf den ersten Blick erscheint, erweist sich bei näherer Prüfung als praktisch undurchführbar, weil sie dem Staate Aufgaben stellt, die er mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln nicht lösen kann. Sie stammt aus einer Zeit, in der man sich über die Grenzen der Staatsmacht noch nicht genügend Rechenschaft gab. So einfach es auch klingt: der


  1. Allgemeine Volkswirtschaftslehre. Handbuch des öffentlichen Rechts. Einleitungsband III. S. 67 f.
  2. Vollgraff, Die Systeme der praktischen Politik II. (1828) S. 221. Vergl. Montesquieu, L’esprit des lois, XI. 5.
  3. Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803) X. Vorlesung am Schluss).
  4. Elemente der Staatskunst (1809) I. S. 66 ff. Müller definiert den Staat als „die Totalität der menschlichen Angelegenheiten, ihre Verbindung zu einem lebendigen Ganzen“ und sagt von ihm, „er dient allen gedenkbaren Zwecken, weil er sich selbst dient.“
  5. Weitere Literatur bei Murhard, a. a. O. S. 312 ff. – Unklar: Escher: Handbuch der praktischen Politik I. S. 37 ff.
  6. Vergl. Murhard, a. a. O. S. 306 ff.
  7. Restauration der Staatswissenschaften I. 17. Kap. S. 470.
  8. Allgemeine Staatslehre, S. 234.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/80&oldid=- (Version vom 10.7.2021)