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grosse praktische Bedeutung für die Entstehung der modernen Staaten. Heute wird sie als überwunden angesehen; man hat vom Staat eine bessere Meinung als sie in der Rechtstheorie zum Ausdruck kommt und niemand bestreitet mehr, dass ihm eine Fülle von Aufgaben zukommt, die weit höher stehen als blosser Rechtsschutz. Dies ist im folgenden noch näher zu untersuchen.

§ 4. Die Zwecktheorie in der modernen Staatslehre.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde von der staatsrechtlichen Theorie der Ausbau des modernen Staates vollzogen. Die von Grund aus geänderte Auffassung des Staates ergriff ihn in allen Beziehungen; die rechtliche Stellung der Organe wie die der Untertanen wurde eine wesentlich andere als früher und ebenso erscheinen die staatlichen Funktionen in neuem Lichte. Was die französische Revolution und die politischen Umwälzungen der folgenden Jahrzehnte in Europa erreicht hatten, wurde erst vollständig, als die Theorie die neuen Probleme geklärt hatte.

Das tiefere Eindringen in das Wesen des Staates brachte mit der Erkenntnis der staatlichen Grenzen auch eine nüchternere Beurteilung der Staatszwecke mit sich. Man kam endlich davon ab, de lege ferenda dem Staate Aufgaben zuzuweisen und utopistische Ideale zu konstruieren, sondern wandte sich dem bestehenden Staate zu.

Damit ist nicht gesagt, dass über die Staatszwecke eine Einigung erzielt worden sei; dies ist durchaus nicht der Fall, ist nicht einmal möglich. Denn die Frage nach den Aufgaben des Staates ist nicht eine Rechtsfrage, sondern ist eine Frage der Politik; bei Beantwortung derselben müssen die politischen Anschauungen des Einzelnen notwendigerweise zum Ausdruck kommen. „Liberal und konservativ, ultramontan und sozialistisch bedeuten grundsätzliche Differenzen über die Aufgaben des Staates.“[1] In diesen Fragen muss daher, schon nach dem Wesen des Problems, eine Einigung ausgeschlossen sein. Deshalb ist es ein Verkennen der ganzen Frage, wenn Murhard sagt:[2] „Die Staatsgelehrten scheinen sich noch immer nicht in ihren Ansichten vom Staatszweck ganz einigen zu können. Der Streit über diesen Gegenstand ist wenigstens noch keineswegs als völlig beendigt anzusehen.“ Das kann, solange es verschiedene politische Parteien gibt, auch nicht der Fall sein, jede Partei erklärt die ihr nicht ins Programm passenden Tätigkeiten des Staates als seinem Zweck zuwider.

Nichtsdestoweniger kann man gewisse Aufgaben von den parteipolitischen Ansichten loslösen oder sie über die Parteien stellen. Freilich sind sie nur im allgemeinen anzugeben, und in der Frage der Mittel zu ihrer Erreichung werden sich die politischen Gegensätze leicht von neuem zeigen. Wenn z. B. als unbestrittene Aufgabe des Staates seine Selbsterhaltung anzunehmen ist, so werden in der Frage, wie sie gelöst werden soll, ob durch eine starke Armee oder durch Abrüstung oder sonstwie, die verschiedenen Parteien einander widersprechen. Wenn es die moderne Staatslehre dennoch unternommen hat, objektiv an das Problem heranzutreten, so kann sie dies auf Grund der erwähnten allgemeinen Klärung und Festigung der Ansichten über den Staat. Dass aber auch bei streng wissenschaftlicher Darstellung dieser Fragen die politischen Ansichten des Autors nicht ganz zu unterdrücken sind, ergibt sich notwendigerweise aus dem politischen Charakter der Materie; in Fragen der Politik muss die subjektive Ansicht zum Vorschein kommen.

Die grosse Verwirrung in der ganzen Lehre hat, wie schon erwähnt, erst Jellinek gelöst, indem er die Untersuchung in die einzig richtige Bahn geleitet hat.

Zunächst stellt er, als Vorbedingung gedeihlicher Untersuchung, die Grenzen staatlicher Tätigkeit fest. Was durch Jahrhunderte nicht erkannt war und infolgedessen zu den schwersten staatlichen Missgriffen geführt hat, erscheint uns heute fast selbstverständlich, nämlich dass der Staat nichts erzeugen kann, was ausschliesslich der menschlichen Innerlichkeit angehört, also Sittlichkeit, Kunst, religiöse Gesinnung, etc. Aber der Staat kann auch das physische Leben nicht unmittelbar beherrschen, er kann keine Menschen erzeugen und so nicht direkt eine Bevölkerungsvermehrung herbeiführen. Dies alles ist und bleibt individuelle Tätigkeit und der Staat muss sich


  1. Jellinek, a. a. O. S. 230.
  2. A. a. O. S. 58.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/82&oldid=- (Version vom 10.7.2021)