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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

darauf beschränken, zur Beförderung derselben, wenn er dies wünscht, günstige äussere Bedingungen zu schaffen. Die dem Staate, seinen Mitteln entsprechend, charakteristischen Tätigkeiten sind „die planmässigen, solidarischen menschlichen Lebensäusserungen.“ . . . . . . . „Diese Solidarität ist aber eine dynamische Grösse, auf allen Gebieten des menschlichen Gemeindaseins zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern verschieden ausgeprägt. Daher empfängt diese Formel ebenfalls von dem jeweiligen gesamten Kulturzustande eines Volkes ihren positiven Inhalt.“

Die Geschichte zeigt, dass die solidaren Interessen stets zugenommen haben und wir sehen, dass sie noch täglich zunehmen. Immer grösser wird das Gebiet, das der Staat in seinen Tätigkeitsbereich zieht, immer mannigfaltiger die Tätigkeit selbst. Bei näherer Betrachtung lässt sie sich zunächst in zwei Gruppen scheiden: die eine Art von Tätigkeiten wird ausschliesslich vom Staate ausgeübt, die zweite kann sowohl vom Staate wie von den Individuen vorgenommen werden.

Teleologisch betrachtet lassen sich drei Gruppen staatlicher Tätigkeit unterscheiden, von denen zwei heute exklusiv staatlich sind, die dritte, die wichtigste auch von den Individuen mitbesorgt wird. Die ersten Spuren dieser Unterscheidung in drei Gruppen finden sich, soviel ich sehe, bereits bei Murhard,[1] deutlicher bei v. Holtzendorff,[2] durch Jellinek wird der Gedanke in klarer, systematischer Weise zum Abschluss gebracht.[3] Über die beiden ersten Tätigkeiten als Staatszwecke ist man sich heute im Prinzip einig; es genügt daher, sie hier kurz zu erwähnen; über die dritte Aufgabe aber kann man sehr verschiedener Ansicht sein.

I. Zunächst hat der Staat den Zweck, sein Gebiet und seine Einwohner zu schützen, eine Funktion, die der Staat immer geübt hat; früher war diese Tätigkeit nicht exklusiv staatlich, das zeigen die Privatkriege und Fehden des Mittelalters. Heute hat nur der Staat das Recht und die Pflicht, sein Volk und Gebiet gegen Angriffe von aussen zu schützen und alle im Interesse der Landessicherheit erforderlichen Massnahmen zu treffen.

II. Ähnlich wie mit dem Sicherheitszweck verhält es sich mit dem Rechtszweck; die bewusste Fortbildung des Rechts ist die zweite heute exklusiv staatliche Tätigkeit. Auch sie war in älterer Zeit nicht ausschliesslich staatlich, sondern auch die verschiedenen Verbände, die Sippen, Stände usw. gaben Gesetze und die Selbsthilfe war ein vom Staat geduldetes Rechtsinstitut. Heute kann nur der Staat Gesetze geben und Recht verwirklichen. Es war ein langwieriger historischer Prozess, in dem der Staat sich das ausschliessliche Recht zur Fortbildung und Aufrechterhaltung der Rechtsordnung angeeignet hat.

III. Zu diesen beiden, für jeden, auch den minder zivilisierten Staat erforderlichen Aufgaben treten noch andere, namentlich für den modernen Staat hochwichtige Zwecke hinzu, die man unter der Bezeichnung Kulturförderung zusammenfassen kann. Das moderne, das Prädikat „Kulturstaat“ in Anspruch nehmende Gemeinwesen kann sich nicht auf die beiden erstgenannten Aufgaben beschränken; es wäre ein trauriges Zeichen für das Menschengeschlecht, wenn es sich nur zum Macht- und Rechtsschutz zu der straffen Organisation im Staate zusammenschliessen würde; damit können die Aufgaben halb- und unzivilisierter Staaten erschöpft sein, aber der moderne Staat wäre damit nicht gerechtfertigt. Es fragt sich nun, worin diese staatliche Aufgabe besteht und wie weit der Staat in dieser Tätigkeit gehen darf, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, die Freiheitssphäre des Individuums zu weit einzuschränken.[4]


  1. A. a. O. S. 367 ff.
  2. A. a. O. S. 232 ff.
  3. A. a. O. S. 248 ff.
  4. Der dreifache Staatszweck findet sich auch in verschiedenen Verfassungstexten, namentlich motivieren Staaten, wenn sie sich zu einem Bundesstaat zusammenschliessen, diesen Akt durch Angabe eines bestimmten Zweckes. So sagt die Verfassung der nordamerikanischen Union in der Einleitung: „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, in der Absicht, eine vollkommene Union zu bilden, Recht und Gerechtigkeit einzusetzen, Ruhe im Innern zu befestigen, für gemeinsame Verteidigung Fürsorge zu treffen, allgemeine Wohlfahrt zu fördern und den Segen der Freiheit uns und unseren Nachkommen zu sichern, verordnen und errichten hiermit diese Konstitution für die Vereinigten Staaten von Amerika.“ Die deutsche Reichsverfassung beginnt: „Seine Majestät der König von Preussen im Namen des Norddeutschen Bundes, Seine Majestät der König von Bayern, .... usw. schliessen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes.“ Die Bundesverfassung der Schweiz sagt in Art. 2: „Der Bund hat zum Zweck: Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen aussen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern, Schutz der Freiheit und der Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt.“
    Auch einzelstaatliche Verfassungen heben bisweilen den Staatszweck hervor. Die meisten Worte darüber macht wohl die französische Verfassung vom 4. November 1848, die im Namen des französischen Volkes proklamiert: „La France s’est constituée en Republique. En adoptant cette forme definitive de gouvernement, elle s’est proposé pour but de marcher plus librement dans la soie du progrès et de la civilisation, d’assurer une répartition de plus en plus equitable des charges et des avantages de la société, d’augmenter l’aisanse de chacun par la réduction graduée des dépenses publiques et des impôts, et de faire parvenir tous les citoyens, sans nouvelle commotion, par l’action successive et constante des institutions et des lois, à un degré toujours plus élevé de moralité, de lumieres et de bien-être.“
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/83&oldid=- (Version vom 10.7.2021)