Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/84

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

In dem weiten und unbestimmten Begriff der Kulturförderung scheint mir ein doppeltes zu liegen. Man muss einen engeren Begriff der Kultur annehmen und ihm den der Zivilisation gegenüberstellen. Gerade für die Feststellung der Staatszwecke ist diese Scheidung notwendig, denn zivilisatorisch kann der Staat direkt wirken, während er für die Kultur im engeren Sinn nur indirekt tätig werden kann.

Dass Kultur und Zivilisation nicht identisch sind, ergibt sich bei näherer Betrachtung von selbst, wenn die Worte auch im gemeinen Sprachgebrauch oft promiscue gebraucht werden.[1] Den Unterschied zwischen ihnen möchte ich nun in folgendem sehen.[2] Zivilisatorische Tätigkeit hat die Vervollkommnung und Beherrschung der Aussenwelt zum Gegenstand, also zivilisiert ist ein Staat, der moderne Verkehrsmittel hat, Institute und Anstalten, die den Anforderungen der Zeit entsprechen, der nach einem geordneten Rechts- und Finanzsystem verwaltet wird, den nationalen und internationalen Forderungen in bezug auf Handel und Industrie nachkommt, usf. Anders der Inhalt des Kulturbegriffes, der nicht leicht zu fassen ist. Namentlich die Aufzählung jener Qualifikationen, die einem Kulturmenschen oder Kulturvolk eigen sein müssen, um als solches zu gelten, wäre nicht leicht vollständig zu geben. Nur allgemein wird man behaupten können, dass zum Begriff der Kultur ein gewisses Mass allgemeiner und ethischer Bildung gehört; im übrigen wird man bei der Feststellung des Begriffes besser negativ vorgehen. Man wird einem Volk den Charakter der Kulturnation absprechen, wenn es in Literatur, Kunst, Wissenschaft nichts leistet, wenn es gewisse Sitten und Gebräuche hat, die uns roh und barbarisch erscheinen, wie etwa grausame Strafen, und endlich werden zahlreiche soziale Erscheinungen uns für den Kulturgrad eines Volkes massgebend sein wie z. B. mangelndes Rechtsgefühl, Korruption der Beamten, grosse Zahl von Analphabeten, die Stellung und Behandlung der Frau in der Gesellschaft, und vieles andere. Je nachdem nun, ob sich bei einem Volke mehr oder weniger die Merkmale vorfinden, die wir als Elemente des Kulturbegriffes erkennen, werden wir in ihm eine Nation auf mehr oder minder hoher Kulturstufe sehen. Die Grenze ist natürlich nicht scharf zu ziehen, denn es handelt sich um Erscheinungen des Lebens, wo alle Grenzen fliessen; nur das Recht sucht nach scharfen Grenzen.

Der moderne Staat nun hat sowohl zivilisatorische wie kulturelle Aufgaben; für die letzteren, die höchsten, die es gibt, ist eine gewisse Höhe der Zivilisation erforderlich, sie ist die Vorbedingung für jede Kultur.

Die zivilisatorische Tätigkeit der modernen Staaten ist ungeheuer gross. Die Staaten wetteifern miteinander, immer die neuesten Erfindungen und Entdeckungen, die im Interesse der Allgemeinheit verwendbar sind, zu verwerten. Dabei handelt es sich für den Staat darum, jene Tätigkeiten zu besorgen, die durch solidarisches Vorgehen zweckmässiger erfüllt werden als durch individuelle Tätigkeit. Briefe befördern, Eisenbahnen anlegen, Versicherungsanstalten errichten, Schulen und Spitäler bauen, Seuchen vom Lande abhalten kann der Staat mit seinen starken


  1. Die französische Sprache kennt den Ausdruck „culture“ in der übertragenen Bedeutung nicht, sie verwendet für beide Begriffe das Wort „civilisation“.
  2. Vergl. darüber meine näheren Ausführungen in der Zeitschrift für Politik, I. S. 234 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/84&oldid=- (Version vom 10.7.2021)