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ersteren Art können die von Napoleon I. geschaffenen Staaten, wie das Königreich Westphalen, das Herzogtum Warschau, angeführt werden; in gleicher Weise hat der russische Kaiser Alexander I. aus dem eroberten Finnland und dessen Bevölkerung einen neuen, wenn auch mit dem russischen Reich dauernd verbundenen, Staat gebildet.

f) Durch Konföderation, d. h. freiwillige Vereinigung mehrerer Staaten zu einem höheren Gemeinwesen ohne Aufgeben ihrer staatlichen Individualität, entsteht dann, aber auch nur dann ein Staat, wenn das neue Gebilde nicht den Charakter eines Staatenbundes, sondern den eines Bundesstaates trägt, also Bund und Staat zugleich ist. In dieser Weise ist insbesondere der Norddeutsche Bund (Bundesstaat) 1866/67 durch Zusammentritt der norddeutschen Staaten entstanden. Aber auch der schweizerische und der nordamerikanische Bundesstaat haben den gleichen Ursprung, wenngleich derselbe in diesen beiden Fällen weniger deutlich und sicher hervortritt.

g) Auch die Union im engeren Sinne des Wortes, d. h. die freiwillige Vereinigung mehrerer Staaten zu einem Staate mit Aufgeben der bisherigen Individualität wenigstens eines der beteiligten Staaten, bringt nicht immer, aber doch möglicherweise einen neuen Staat hervor. Für die Beantwortung der Frage, ob diese Wirkung oder nur die Vergrösserung eines schon bestehenden Staates eintritt, wird es in Ermanglung anderer zwingender Gründe vor allem auf die relative Grösse der Bevölkerungen und der Gebiete der beteiligten Staaten ankommen. Unzweifelhaft hat der Anschluss der Fürstentümer Hohenzollern an das Königreich Preussen 1849/50 nur eine Vergrösserung des letzteren Staates bewirkt. Aber aus dem eben angeführten Gesichtspunkt wird man auch die sogen. Union Schottlands mit England ebenso wie die spätere Irlands mit Grossbritannien nicht als Schaffung eines neuen Staates zu betrachten haben, ebenso wenig den Anschluss der süddeutschen Staaten an den Norddeutschen Bund; dagegen wird es richtiger sein, das Königreich Italien als einen neuen Staat, nicht als eine blosse Erweiterung des Königreichs Sardinien, obgleich es dessen Verfassung unverändert übernommen hat, aufzufassen.

Auch durch allmähliche Verschmelzung kann eine Mehrzahl von Staaten zu einem Staat zusammenwachsen. So haben sich der brandenburgisch-preussische Staat und der österreichische Staat aus einer grösseren Zahl unter demselben Landesherrn stehender wenigstens staatsähnlicher Territorien gebildet.

III. Tatsächlicher Untergang von Staaten.

1. Von den antiken Schriftstellern wird der Staat nicht selten als unsterblich bezeichnet. Dieser Ausspruch ist insofern berechtigt, als das Zusammenleben in Staaten einen notwendigen Ausfluss der menschlichen Natur bildet. Auf die einzelnen konkreten Staaten bezogen scheint er zunächst durch die geschichtliche Erfahrung gänzlich widerlegt zu werden, denn, wie ein neuerer Schriftsteller mit Recht hervorgehoben hat, die Erde ist überdeckt mit den Trümmern untergegangener Staaten. Trotzdem kommt jener Anschauung auch hinsichtlich der geschichtlichen Staaten eine gewisse Wahrheit zu. Der einzelne Staat setzt sich von vornherein keine zeitliche Grenze und erstrebt auch später regelmässig in erster Linie seine Selbsterhaltung. Er kann ferner mannigfache und tiefgehende Veränderungen überdauern und muss solche überdauern können, weil seine Aufgaben nur durch längere zusammenhängende Tätigkeit unter vielfach wechselnden Umständen einigermassen erfüllt werden können. Insbesondere wird seine Existenz, entgegen Aristoteles’ Auffassung, nicht berührt durch einen Wechsel der Staatsform, denn ein solcher setzt vielmehr gerade die Fortdauer derselben Staatsindividualität voraus. Ebensowenig geht der konkrete Staat unter durch den unaufhörlichen Wechsel der einzelnen Mitglieder, die vor allem eine natürliche Folge der Geburten, Heiraten und Todesfälle ist und heutzutage auch in erheblichem Umfange durch Naturalisation und Ausbürgerung stattfindet. Aber auch nicht durch jeden friedlich oder gewaltsam auf einmal erfolgenden Verlust eines grösseren Volksteils und des von demselben bewohnten Gebietes oder durch jeden auf einmal erfolgenden bedeutenden Zuwachs an Volk und Land verliert ein Staat seine Individualität. So ist Preussen 1807, obgleich es ungefähr die Hälfte seiner Bevölkerung und seines Gebietes durch den Tilsiter Frieden verlor, derselbe Staat geblieben, besonders weil der Verlust

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/90&oldid=- (Version vom 10.7.2021)