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sich nicht auf die historischpolitisch als Kernlande des Staats zu betrachtenden Gebietsteile erstreckte; ebensowenig haben die Einverleibungen von 1866 die Individualität des preussischen Staates aufgehoben.

2. Den tatsächlichen Untergang eines Staates bewirken daher nur Vorgänge, welche seine bisherige Zusammensetzung völlig aufheben oder in überwiegendem Masse ändern. Hierher gehören insbesondere folgende Fälle:

a) Durch Vernichtung oder völlige Zerstreuung des Volks, wie sie im Altertum z. B. bei der Zerstörung von Tyrus, Sagunt, Karthago erfolgte, geht der betreffende Staat unter. Die gleiche Wirkung wird dem – nicht leicht praktisch werdenden – Untergang des Staatsgebietes zukommen. Aber auch durch ein völliges Aufgeben des bisherigen Gebietes geht der bisherige Staat unter. Dasselbe Volk auf einem ganz neuen Gebiete wird einen neuen Staat bilden.

b) Durch die Teilung eines Staates in mehrere Staaten (oben II 4 c) erlischt der erstere, auch wenn ein gewisser Zusammenhang zwischen den mehreren neuen Staaten fortbesteht. Gleiche Wirkung hat die Verteilung von Volk und Gebiet eines Staates unter mehrere schon bestehende Staaten; insofern dieser Vorgang, wie bei dem Untergang des polnischen Staates, ein gewaltsamer ist, findet ein Zusammenwirken von Eroberung und Teilung statt. Ein aus mehreren Staaten zusammengesetzter Staat geht auch unter, wenn die letzteren sich sämtlich von der Unterordnung unter die Zentralgewalt frei machen bezw. diese aufhört zu fungieren; in solcher Weise hat insbesondere die Auflösung des alten deutschen Reichs 1806 stattgefunden.

c) Infolge von Eroberung (oben II 4 e) geht ein Staat unter, wenn das ganze Volk mit seinem Gebiete in den siegreichen Staat einverleibt oder für die Errichtung eines neuen Staats verwendet wird (so z. B. das Kurfürstentum Hessen 1866 durch Einverleibung in Preussen; dasselbe – wenn auch nicht endgültig – 1807 durch Einfügung in das neu gegründete Königreich Westphalen).

d) Durch freiwillige Vereinigung mit einem anderen Staat (oben II 4 g) verliert ein Staat seine Existenz, wenn dadurch nur der erstere vergrössert oder ein neuer Staat gegründet wird.

Ein Staat würde auch erlöschen durch Anarchie, d. h. wenn die Angehörigen aufhören würden, in dem bisherigen Staatsverband zu leben, ohne dass für sie ein neuer an die Stelle träte; jedoch wird ein solcher Vorgang höchstens ganz vorübergehend eintreten können.

IV. Rechtliche Entstehung von Staaten.

1. Die Frage, wie Staaten rechtlich zur Entstehung gelangen, ist vielfach dadurch verwirrt worden, dass man den Rechtsgrund der konkreten Staaten nicht oder nicht genügend von dem allallgemeinen psychologischen Erklärungsgrund und von dem allgemeinen ethischen Rechtfertigungsgrund des Zusammenlebens der Menschen in Staaten unterschied. Psychologisch liegt der Existenz aller Staaten ein den Menschen innewohnender Trieb, ein „Staatstrieb“ zugrunde. Ethisch rechtfertigt sich die geschichtliche Tatsache wie die Forderung staatlichen Zusammenlebens der Menschen durch die Vernunftsnotwendigkeit des Staats. Diese philosophischen Erkenntnisse sind aber für die juristische Betrachtung der Existenz der einzelnen Staaten bedeutungslos. Andererseits kann jedoch auch die Ansicht, dass das Bestehen oder wenigstens die Entstehung der einzelnen Staaten überhaupt kein Gegenstand rechtlicher Qualifikation sei, nicht als zutreffend anerkannt werden. Recht und Staat sind überhaupt zwei auf das engste mit einander zusammenhängende hohe Güter der Menschheit, der Bereich des Rechts aber würde eine überaus tiefgreifende Einschränkung, der Begriff des Staats eine wesentliche Minderung erleiden, wenn auf die Vorgänge der Bildung von Staaten oder sogar überhaupt auf das Bestehen der einzelnen Staaten die Herrschaft des Rechts sich nicht erstrecken sollte. Für eine solche Annahme ist selbst die Theorie, dass alles Recht staatlichen Ursprungs sei, keine ausreichende Grundlage; denn immerhin kann ja ein neuer Staat durch den Willen eines schon bestehenden Staats bezw. mehrerer schon bestehender Staaten entstehen.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/91&oldid=- (Version vom 10.7.2021)