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2. Vielfach hat man einen allgemeingültigen Rechtsgrund für die Existenz aller einzelnen Staaten aufgestellt. Von den hierher gehörigen Theorien haben die Patriarchal- und die Patrimonialtheorie niemals eine bedeutende Verbreitung erlangt, und sie bedürfen auch keiner eingehenden Widerlegung, da sie eine zuweilen vorgekommene Art faktischer Entstehung von Staaten (vgl. oben II 2 und 3 b) irrig für eine allgemeine rechtliche Entstehungsart erachten. Eine grosse Bedeutung haben dagegen zeitweise gewonnen die Theorie der göttlichen Stiftung, die Machttheorie und die Vertragstheorie.

a) Die Theorie der göttlichen Stiftung behauptet, dass Gott, indem er durch seine Fügung einen Staat entstehen bezw. längere Zeit fortbestehen lasse, demselben und dem darin herrschenden Willen seine Sanktion verleihe, wodurch die Mitglieder zum rechtlichen Gehorsam gegenüber der bestehenden Staatsordnung verpflichtet würden. Diese Theorie aber verwechselt vor allem die religiöse Verpflichtung mit der rechtlichen. Ferner ist nicht einzusehen, weshalb Gott den bestehenden Zustand, auch wenn dieser in einer vom Standpunkt des menschlichen Rechts nicht rechtmässigen Weise entstanden ist und wenn er zudem vielleicht den konkreten vernünftigen Bedürfnissen der betreffenden Menschengruppe widerspricht, in seinen besonderen Schutz nehmen soll.

b) Die Machttheorie in ihrer rohesten Gestalt kann nur als eine Verhöhnung der Rechtsidee bezeichnet werden. Die meisten neueren Anhänger dieser Theorie aber gründen ihre Behauptung, dass jeder faktisch bestehende Staat auch rechtmässig sei, auf die allgemeine Vernunftsnotwendigkeit des Staats und nehmen demgemäss in ihre Definition der Macht bezw. des konkreten Staates das Erfordernis der Verwendung der Macht im allgemeinen Interesse auf. Aber dadurch wird noch nicht erklärt, weshalb die faktisch der konkreten Staatsgewalt unterworfenen Menschen ihr gegenüber zum Gehorsam rechtlich verpflichtet sein sollen, zumal wenn die neue Staatsbildung sich im Widerspruch zum bisherigen Rechte vollzogen hat.

c) Die aus alten Wurzeln entsprossene, in der Neuzeit lange Zeit vorherrschende Vertragstheorie nimmt an, dass ein Staat rechtsgültig nur durch einen Vertrag resp. durch mehrere Verträge von Individuen entstehen könne. Insofern eine solche Entstehung geschichtlich höchstens ganz vereinzelt für konkrete Staaten nachgewiesen werden kann, erscheint die Annahme, dass die konkreten Staaten zumeist (nämlich soweit ihnen überhaupt eine rechtliche Existenz zukommt) auf einem solchen Rechtsgrund beruhen, als eine Fiktion. Irrig ist auch die dieser Theorie zugrunde liegende Voraussetzung, dass der menschliche Wille in keiner anderen Weise als mit seiner freien Zustimmung rechtlich beschränkt bezw. einem anderen Willen unterworfen werden könne. Immerhin bekundet sich in dieser Theorie die richtige Erkenntnis oder Empfindung, dass die staatlichen Beziehungen zwischen den Menschen keinen von allen übrigen rechtlichen Verhältnissen spezifisch verschiedenen Rechtsgrund haben können. Dagegen erscheint die in neuester Zeit von hervorragenden Philosophen und Juristen verfochtene Behauptung, dass die Entstehung eines Staates durch Vertrag unmöglich sei, als Ausfluss teils einer unrichtigen Würdigung des Vertrags, indem man diesen als einen Akt reiner Willkür statt als ein Mittel zur Befriedigung der vernünftigen Bedürfnisse der Menschen auffasst, teils einer zu engen Begrenzung des Vertragsbegriffs, indem man dem Vertrage nur eine obligatorische Wirksamkeit oder nur eine Bedeutung für die Anwendung, nicht auch für die Entstehung objektiven Rechts zuerkennt.

3. Rechtlich kann ein Staat nur in derselben Weise zur Entstehung kommen, wie überhaupt unter den Menschen rechtliche Beziehungen sich bilden und insbesondere juristische Personen zur Existenz gelangen, d. h. vermöge eines Rechtssatzes. Insofern aber nicht leicht Rechtssätze im voraus die Entstehung von Staaten in zukünftigen unbestimmten Fällen regeln werden, erlangen Staaten rechtliches Dasein regelmässig unmittelbar durch einen Rechtssatz. Ein solcher Rechtssatz kann ein Ausfluss jeder Rechtsquelle sein; er kann demgemäss auf bewusster oder unbewusster Rechtsbildung beruhen und insbesondere, insofern es sich um bewusste Schaffung eines staatlichen Verbandes und Gesamtwillens handelt, sowohl Inhalt eines Vertrags als eines Gesetzes sein.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/92&oldid=- (Version vom 10.7.2021)