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II. In den modernen Kulturstaaten ist – der Regel nach – den Beziehungen der Staatsgewalt zu den Staatsgliedern auch insofern eine verschiedene Grundordnung gegeben, als dabei weiter zum Begriff der „Nation“ in doppelter Weise Stellung genommen ist. Mit Rücksicht hierauf lassen sich die beiden Staatsformen des „Nationalstaats“ und des „national-gemischten Staats“ (im Rechtssinne) anführen.

„Nation“ ist an sich eine aus Blutsgemeinschaft sich herleitende Sprach- und Kulturgemeinschaft. Diese Definition betrachtet die Blutsgemeinschaft wohl als das Urelement der Nation, lässt es aber andererseits auch zu, dass an sich Blutsfremde einer bestimmten nationalen Sprach- und Kulturgemeinschaft selbst sich eingliedern. Die Nation braucht mit dem Staatsvolk nicht zusammenzufallen; ein Staatsvolk kann mehrere Nationen in sich schliessen. Die Staatsform „Nationalstaat“ liegt aber dann vor, wenn ein bestimmter Staat seine öffentliche Rechtsordnung in eine entscheidende Rechtsbeziehung zu einer bestimmten Nation bringt, insbesondere dadurch, dass er die Sprache der Nation zur Staatssprache im Rechtssinne erhebt. Ist in dem Staat das Staatsvolk aus mehreren Nationen zusammengesetzt, so geschieht solches natürlich auf Kosten der übrigen Nationen. Zur Staatssprache im Rechtssinne wird aber die Sprache der betreffenden Nation: a) wenn die letztere den Staatsorganen zum Sprechen im Verkehr nach innen mit ihren gleichen und im Verkehr nach aussen mit den Untertanen schlechthin vorgeschrieben wird; b) wenn es wenigstens als Grundsatz vorgeschrieben wird, dass die Staatsorgane in dieser Weise der fraglichen nationalen Sprache sich bedienen sollen und ihnen also ausnahmsweise, unter besonderen Verhältnissen, auch noch das Sprechen in der Sprache einer anderen nationalen Bevölkerungsgruppe nachgelassen oder anbefohlen wird. In den Begriff der Staatssprache als derjenigen Sprache, welche der Staat d. h. die Organe desselben sprechen, fällt es dagegen an und für sich nicht, dass das „Anhören“ der Untertanenschaft von seiten der Staatsorgane in der nämlichen Sprache zu erfolgen hat. Doch haben manche Nationalstaaten, welche eine bestimmte nationale Sprache als Staatssprache erkoren haben, zugleich vorgeschrieben, dass auch das Publikum, wenn es mit den Staatsorganen in Verkehr tritt, oder auf dem Gebiet des öffentlichen Lebens („Vereins- und Versammlungswesen“) sich bewegt, sich der eingeführten Staatssprache zu bedienen hat. Sie haben also dem Rechtsbegriff „Staatssprache“ eine Ausdehnung gegeben, die weit über die rein begrifflichen Anforderungen hinausgeht; sie durften dies tun, weil der Inhalt des Rechtsbegriffs „Staatssprache“ an sich variabel ist, weil der letztere sowohl mit den rein begrifflichen Anforderungen übereinstimmen, als hinter denselben zurückbleiben, als über dieselben hinausreichen darf.

Die Staatsform „national-gemischter Staat“ ist dann gegeben, wenn die öffentliche Rechtsordnung eines Staats die mehreren nationalen Gruppen des Staatsvolks in ihren Beziehungen zur Staatsgewalt als gleichberechtigt behandelt, sei es schlechthin, sei es wenigstens im Prinzip: insbesondere

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/99&oldid=- (Version vom 13.7.2021)