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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

auswandert, diese Gemeinden (es handelt sich um die Grossstädte) sonach die Bevölkerung empfangen, nachdem sie auf Kosten der anderen Gemeinden ihre „Zurichtung“ empfangen hat, erkennt man, dass es sich um ein gesamtstaatliches Problem handelt und der Staat früher oder später mit der Forderung, mindestens einen Teil dieser Last auf sich zu nehmen, sich zu beschäftigen haben wird.

Das wäre also die eine der Möglichkeiten.

Die Gemeinden können aber in Preussen auch 2. ihre direkten Steuern ausbauen durch allgemeinere Ausdehnung der Einkommensteuer auf die unteren Einkommensklassen bis 420 Mk. herab, insoweit das nicht bereits geschehen, sie können 3. die Erhebung indirekter Steuern, die ihnen bereits gestattet sind oder solcher, die ihnen durch neues Gesetz zu gestatten wären, erwägen. Beides ist unter sozialem Gesichtspunkte odios,[1] wenn man auch freilich heute in weitesten Kreisen der Wissenschaft, wie der kommunalen Praxis darüber einig ist,[2] dass in der radikalen Abschaffung aller für den Gemeindesäckel irgend ins Gewicht fallenden Verbrauchssteuern zu weit gegangen wurde. Aus diesen beiden Titeln würde aber, wie immer man es anstelle, nicht zu viel zu holen sein. Mehr wohl 4. aus einer Gemeinde-Kapitalsteuer[3] behufs Kompensation der bisher bloss auf den Realbesitz gelegten Ertragssteuern.[4] Indes würde auch diese Steuer, zumal – von anderen Bedenken zu schweigen – ihre technischen Schwierigkeiten nicht unterschätzt werden dürfen,[5] den Stand der Kommunalfinanzen nicht wesentlich und vor allem kaum dauernd zu bessern vermögen. Ebensowenig erscheinen aus sozialen und anderen Gründen 5. die Tarife der städtischen Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke, der Strassenbahnen etc., sowie die verschiedenen kommunalen Gebühren noch wesentlich steigerungsfähig.

Der Staat kommt sonach um die Aufgabe der Übernahme eines Teils der bisher den Gemeinden erwachsenen Aufwendungen (hauptsächlich für die Schule) schwerlich herum. Die ihm hier, wie es scheint, zufallende Aufgabe dürfte aber gleichzeitig mit der anderen in Angriff zu nehmen sein, einen gewissen „Ausgleich“ in dem Finanzstand der verschiedenen Gemeinden herbeizuführen. Die Unterschiede der Leistungsfähigkeit sind heute enorm. Dieselben weisen auf die Notwendigkeit einer „Ausgleichung“ hin, wobei diese ihre innere Rechtfertigung auch daraus holt, dass (wie schon erwähnt) heute die überhoch besteuerten Gemeinden als Auswanderungsgemeinden vielfach die Schullasten für die minder hoch besteuerten Einwanderungsgemeinden tragen.

V. Abschliessende Würdigung des Abgabensystems von Reich, Staaten und Gemeinden.

Bei Würdigung des Abgabensystems in Deutschland wurde früher häufig der Fehler begangen, die Reichs- und bundesstaatlichen Finanzen, deren Daten leicht zu erheben sind und jedermann zur Verfügung stehen, dem Urteil zugrunde zu legen, ohne die Gemeindesteuern, welche „nicht weniger drücken“, heranzuziehen. Dabei ergab sich ein ganz verkehrtes und infolgedessen völlig unbrauchbares Bild. Es musste darum die Forderung erhoben werden, bei aller Betrachtung des Abgabensystems in Deutschland die gemeindlichen Abgaben nicht als „quantité negligeable“ zu behandeln, sie vielmehr als den anderen Abgaben durchaus gleichwertig in die Rechnung einzustellen.

Die Verwirrung, welche die Bezugnahme auf Reichs- und Staatsabgaben allein mit Vernachlässigung der kommunalen stiften musste, ergibt sich schlagend aus folgender Übersicht:[6]


  1. Was nicht hindert, dass ein Ausbau der Gemeindeeinkommensteuer „nach unten hin" bereits erfolgt, vgl. Otto Landsberg, Die Entwicklung des Gemeindeabgabenwesens in den preussischen Städten, in den Schriften des Vereins fiir Sozialpolitik, 127. Band, „Gemeindefinanzen“, 1910. S. 23.
  2. Vgl. selbst Adolf Wagner, Die finanzielle Beteiligung der Gemeinden usw. S. 30 ff., sowie aus der Praxis Ernst Scholz, Das heutige Gemeindebesteuerungssystem in Preussen, Schriften des Vereins für Sozialpolitik, 120. Band. „Gemeindefinanzen“ 1908, S. 304 ff., und Landsberg, a. a. O., S. 30 ff.
  3. Vgl. Ernst Scholz, a. a. O., S. 314 f.
  4. Vgl. Alex. Tille, Die Steuerbelastung der Industrie in Reich, Bundesstaat und Gemeinde. S. 64 ff.
  5. Vgl. Landsberg, a. a. O., S. 40.
  6. Entnommen meinem Buche „Die Reichsfinanzreform“ S. 75 und 82.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/118&oldid=- (Version vom 11.9.2021)