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das anfänglich nur wenig Stimmen auf sich vereinigt hat, im Laufe der Jahre doch immer mehr Anhänger gefunden. Allerdings haben bis heute zwei Ursachen ihre Einführung verhindert. Die eine ist der Widerstand der Vertreter der Rentnerklasse, die in Parlament und Presse noch eine einflussreiche Stellung einnimmt, die an der Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes interessiert ist, denen der mit der Einkommensteuer verbundene Zwang zu Deklarationen ganz unleidlich erscheint und die sich, wie O. Schwarz zutreffend betont, darauf berufen kann, dass die bisherige Besteuerung den Sparsinn der Bevölkerung in hervorragender Weise gefördert hat. „Denn indem sie mehr den tatsächlichen Aufwand als die wirtschaftliche Kraft besteuert und jedes lästige Eindringen in die Geheimnisse des Geldschrankes des einzelnen nach Möglichkeit vermeidet, fördert sie mächtig den Spartrieb, das Anlegen der Ersparnisse in einheimischen Renten- und sonstigen Werten und hat zweifellos sehr mit dazu beigetragen, dass Frankreich, trotzdem es nicht entfernt auf den Aufschwung Englands, Deutschlands und Nordamerikas in den letzten Dezennien zurückblicken kann, sich doch noch heute mit Recht als den ‚ersten Gläubiger der Welt‘ oder doch als einen der ersten Gläubiger betrachten darf.“ Die zweite Ursache, die der Einführung der Einkommensteuer entgegensteht, ist der fortwährende Wechsel der Ministerien, vor allem der Leiter des Finanzministeriums. Kein Finanzminister hat bisher Zeit gehabt, sich so einzuleben, dass er das Projekt der Einkommensteuer durch die Klippen der parlamentarischen Beratung hätte hindurchleiten und durch zähe Arbeit die Widerstände überwinden können, welche die politischen Verhältnisse, die wechselnden parlamentarischen Konstellationen, die Interessenvertretungen dem grossen Reformwerk bereiten. Es kommt dazu, dass die Wissenschaft, die in Deutschland Jahrzehnte hindurch die öffentliche Meinung auf die Notwendigkeit einer Umgestaltung des direkten Steuerwesens vorbereitet hatte, in Frankreich so gut wie ganz versagte. Ob und wann unter diesen Umständen das Einkommensteuerprojekt Caillaux’, das sich in der Hauptsache die englische Einkommensteuer zum Muster genommen hat, Gesetzeskraft erlangen wird, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.

Das Steuerwesen Grossbritanniens vor Beginn der grossen Kriegszeit zu Ende des 18. Jahrhunderts hat nichts Bestechendes an sich. Wie auf dem Kontinent der Absolutismus, so legte in England die das Parlament beherrschende Aristokratie die Hauptlasten des Steuerbedarfs auf den Verbrauch, ohne durch die Überlastung der unteren Klassen sich im Gewissen beschwert zu fühlen. Natürlich fehlte es nicht ganz an direkten Steuern: aber die, übrigens auch nur zeitweise erhobenen, Kopf-, Klassen- und Standessteuern waren doch recht willkürlich und ungleichmässig, belasteten zudem auch die kleinen Leute und wurden schon seit Anfang des 18. Jahrhunderts nicht mehr erhoben; die Landsteuer, anfänglich eine rohe Ertragsteuer von Grundbesitz, persönlichem Vermögen und Besoldung, wurde mehr und mehr zu einer rohen, reallastartigen Grundsteuer; die sog. Haussteuer hatte tatsächlich den Charakter einer Wohn- und Mietsteuer; die ausserdem vorkommenden Spezialgewerbesteuern sind nur zum Teil solche, zum Teil sind sie Lizenzabgaben und haben als solche den gemischten Charakter von Sondergewerbe- und Aufwandsteuern. Den Hauptertrag aber lieferten das Zollwesen mit den zahlreichen Positionen und den hohen Sätzen und die eine grosse Menge von Gegenständen erfassenden Inlandsakzisen. So ruhte die Hauptlast der Steuern auf den mittleren und unteren Klassen. Nur zwei Steuern trafen vornehmlich die vornehmeren und wohlhabenderen Stände: die sog. Luxussteuern und die Verkehrsabgaben. Die Luxussteuern, in England im 18. Jahrhundert besonders stark ausgebildet, waren aber doch sehr ungleichmässig und willkürlich und relativ wenig ergiebig; die Verkehrsabgaben sind erst später zu nennenswerten Erträgen gesteigert worden.

Während in Frankreich, wie oben gezeigt worden ist, während der Revolutions- und Kriegszeit, zum Teil unter dem Einfluss ökonomischer und demokratischer Theorien, zum Teil unter dem Druck der Finanznot, ein Neu- und Umbau des Steuerwesens erfolgt war, versuchte man in dem konservativen, durch keine Inlandsbewegung erschütterten und von den unmittelbaren Schrecken des Krieges verschonten England die ins Ungemessene steigenden Lasten der Kriegszeit mittels des überlieferten Steuersystems zu bewältigen. Neben der beispiellosen Anspannung des Staatskredits musste zunächst eine starke Erhöhung und Vermehrung der bestehenden Abgaben, der Zölle, Akzisen, Luxus-, Verkehrs- und Erbschaftssteuern Erleichterung bringen. Nur eine Steuer

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/137&oldid=- (Version vom 12.9.2021)