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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Wandelungen im Wirtschaftsleben und andere Umstände bürgen dafür, dass auch die Zukunft sich eingehend mit Problemen des Steuerwesens wird beschäftigen müssen. Selbst in denjenigen Ländern, welche sich der grössten Fortschritte rühmen dürfen, kann und wird das Um- und Weiterbilden nicht zum Stillstande kommen. Dafür sorgt schon das Anwachsen des Staatsbedarfes. Wir werden uns weiter in der Richtung wachsender Ausgaben für öffentliche Zwecke bewegen. Es hat nicht den Anschein, als ob die Völker auf das Waffenkleid, das sie zum Schutze ihrer Unabhängigkeit, zur Wahrung ihrer wirklichen oder vermeintlichen Interessen in der Weltpolitik angelegt haben, verzichten wollten. Wir werden auch in der Zukunft steigende Ausgaben für Heer und Flotte zu verzeichnen haben. Aber auch die innere Verwaltung, die schon seit den letzten Jahrzehnten an der Steigerung der Ausgaben relativ in stärkerem Masse beteiligt war als die Land- und Seemacht, wird wachsende Anforderungen an das Budget stellen. Es ist dies so häufig und überzeugend nachgewiesen worden, dass es des Beweises nicht bedarf. Der Schuldendienst wird gleichfalls mit zunehmenden Ziffern zu rechnen haben. Selbst wenn den Staaten kriegerische Ereignisse erspart bleiben und in der Aufnahme von Schulden grössere Zurückhaltung beobachtet wird, werden doch neue Schulden unvermeidlich sein. Wird vollends, wie es den Anschein hat, das da und dort vernachlässigte Tilgen von Schulden wieder energischer in die Hand genommen, so wird auch dies zu einer stärkeren Inanspruchnahme von Steuerleistungen Veranlassung geben. Die Erfahrung hat bisher gezeigt, dass dieses Anwachsen des Staatsbedarfes aus der Vermehrung des Wohlstandes allein bei gleich bleibenden Steuersätzen keine Deckung findet, dass vielmehr ohne Steigerung der Steuersätze und unter Umständen ohne Erweiterung des Steuersystems nicht wird auszukommen sein. Wird nun schon bei jeder Steuererhöhung im staatlichen Finanzwesen eine erneute Prüfung des ganzen Steuersystems oder wenigstens der Steuersätze sich aufdrängen, so wird diese um so notwendiger werden, je mehr auch die Gemeinden und höheren Kommunalkörper, konkurrierend mit dem Staate, steigende Ansprüche an die Steuerkraft ihrer Mitglieder erheben. Ist vollends, wie im Deutschen Reich, noch ein dritter und so ungenügsamer Bewerber um finanzielle Mittel vorhanden, so werden Steuerreformen und Reformbewegungen nicht von der Tagesordnung verschwinden. Es dürfte deshalb angezeigt sein, im Folgenden vom Standpunkte der Wissenschaft aus die Frage zu erörtern, auf welchem Wege und in welcher Richtung sich die Steuerreformen der nächsten Zeit, insbesondere in Deutschland, bewegen werden und sollen. Dabei ist zunächst die Vorfrage zu erledigen, welche Forderungen die Wissenschaft an ein rationelles Steuerwesen stellt und inwieweit das Steuerwesen heute schon diesen Ansprüchen genügt.

Seit den Tagen von Justi und A. Smith hat man in der Finanzwirtschaft sich bemüht, allgemeine Grundsätze aufzustellen, die für die Ausgestaltung des Steuersystems massgebend sein sollten. Heute fordert die Wissenschaft übereinstimmend, 1. dass das Steuersystem so eingerichtet sei, dass es den Bedarf des Staates zu decken und auch dem Anwachsen des Staatsbedarfes zu genügen vermöge, 2. dass keiner, der überhaupt etwas zu leisten in der Lage sei, von den Steuern befreit werde, 3. dass die Steuern möglichst gerecht und gleichmässig auf die Pflichtigen verteilt, 4. dass Erschwerungen und Belästigungen des Wirtschaftslebens nach Tunlichkeit vermieden und 5. Erhebung und Veranlagung zweckentsprechend geordnet werden. Vom Standpunkte der Finanzverwaltung ist der erste Grundsatz der wichtigste. Aber er wird sich nur dann gebieterisch und ohne Rücksicht auf die anderen Grundsätze durchsetzen dürfen und können, wenn ausserordentliche Notlagen den Staat zwingen, jedes Opfer von seinen Untertanen zu fordern, das geeignet ist über Tage des Unglücks hinwegzuhelfen. In normalen Zeiten wird dagegen mehr die Rücksichtnahme auf die anderen Grundsätze den Gang der Steuerreformen bestimmen, und unter diesen hat sich seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts immer mehr die Frage in den Vordergrund geschoben, wie die Besteuerung auszugestalten sei, damit sie gerecht und gleichmässig sei. Da diesem Problem ein eigener Abschnitt in diesem Handbuch gewidmet ist, so darf an dieser Stelle nicht ausführlicher darauf eingegangen werden. Weil aber alle Steuerreform von der Stellung zu diesem Problem bedingt ist, so können wir nicht umhin, unseren Standpunkt in aller Kürze zu präzisieren.

Dass die Frage der gerechten Steuerverteilung in den letzten Jahrzehnten der Angelpunkt der meisten Steuerreformen gewesen ist, hängt in erster Linie mit dem gesteigerten sozialen Empfinden der Gegenwart zusammen. Die Forderung der austeilenden Gerechtigkeit, die bis weit in die Kreise

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/146&oldid=- (Version vom 30.3.2023)