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der bürgerlichen Nationalökonomen Verständnis und Vertretung fand, musste am ersten da nach Geltung ringen, wo der Staat mit diesem Problem in Berührung trat. In dem auf dem Individualismus beruhenden privaten Wirtschaftsleben stehen der Verwirklichung der austeilenden Gerechtigkeit unüberwindliche Hindernisse der verschiedensten Art entgegen. Bei den Beziehungen der Einzelnen zum Staate dagegen können die Forderungen gerechter und gleichmässiger Behandlung am ehesten Verwirklichung finden. Wann aber ist die Besteuerung gerecht und gleichmässig? Die Antwort lautete bekanntlich verschieden je nach den herrschenden Anschauungen von den Aufgaben des Staates und der Stellung des Einzelnen zum Staate. Ernsthaft können nur zwei Theorien in Betracht kommen: die eine, welche die Steuer als ein Äquivalent für die dem einzelnen durch den Staat geleisteten Dienste ansieht, die andere, die sie nur nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bemessen haben will. Die erste beherrschte die liberalistische Periode der Volkswirtschaftslehre. Sie steht im Zusammenhange mit der Lehre von der Beschränkung der Staatstätigkeit und ist auch nur in diesem Zusammenhange halbwegs verständlich. So verlangte Bastiat, ein Anhänger dieser Lehre, in einer Rede in der gesetzgebenden Versammlung von 1849, dass der Staat mit jedem Bürger auf dem Steuerzettel abrechnen und genau ausschlagen solle, wie viel Steuer für die Polizei, wie viel für Rechtspflege, wie viel für diese und jene kriegerische Unternehmung zu entrichten sei – so wie wir heute etwa gesonderte Zettel für Brandversicherung oder Wasserzins oder Kehrichtabfuhr und dergl. erhalten. Allein dieser Gedanke entspringt einer ganz privatwirtschaftlichen Auffassung. Er ist weder im Prinzip berechtigt noch praktisch durchführbar und erscheint als völlig sinnlos, wenn der Aufgabenkreis des Staates einen solchen Umfang erreicht hat wie in der Gegenwart. Solche Kollektivausgaben entziehen sich einer rechnerischen Verteilung auf die einzelnen Bürger, und es ist deshalb auch ein Ding der Unmöglichkeit, die Steuerleistung der einzelnen mit ihrem persönlichen Interesse an den staatlichen Kollektivleistungen in Verhältnis setzen zu wollen. Es ist nicht überflüssig, dies auch heute noch zu betonen. Im Reichstag und bei der Reichsregierung ist der Gedanke, bei der Besteuerung die Bemessung nach den Vorteilen vorzunehmen, wiederholt aufgetaucht und zur praktischen Verwirklichung gebracht worden. Es sei daran erinnert, dass bei Gelegenheit der Flottenvorlage vom Jahre 1900 der Satz ausgesprochen und in der Erhöhung der Verkehrssteuern auch zur Geltung gebracht wurde, dass die Mehrung der Flotte in erster Linie dem Handel und der Industrie zugute käme und deshalb durch Steuern bestritten werden müsse, die an diese Kreise sich hielten. Die Reichszuwachssteuer ist mit der Motivierung begründet worden, dass die Werterhöhungen der Grundstücke in erster Linie dem Aufblühen der deutschen Volkswirtschaft durch die Existenz und die Veranstaltungen des Reiches zu danken sei. Allein in beiden Fällen kann die Begründung nicht als stichhaltig angesehen werden; denn hier wie dort fehlt es an dem Nachweise, dass die im allgemeinen Interesse, ohne Beziehung zu einem bestimmten Personenkreise unternommenen Veranstaltungen des Reiches gerade den Handeltreibenden oder Grundbesitzern allein oder auch nur vorwiegend zu gute gekommen seien. Die Schaffung einer tüchtigen Flotte soll doch der Wahrung des Friedens und der nationalen Unabhängigkeit und der Vertretung aller politischen und wirtschaftlichen Interessen im Auslande dienen; ihr Nutzen wird jedem Reichsdeutschen zugute kommen. Noch bedenklicher ist die Begründung der Reichszuwachssteuer. Hier fehlt es an jedem erkennbaren Zusammenhang zwischen bestimmten Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln und der Grundwertsteigerung. Mit einer Begründung, wie sie der Reichszuwachssteuer gegeben worden ist, kann man jede Sondersteuer auf Erwerbsberufe begründen, die seit der Errichtung des Reiches sich im Aufblühen befinden. Es wird gut sein auf dem betretenen Weg, der zur alten Interessentheorie zurückführen würde, nicht weiter zu schreiten. Man hat diese seinerzeit mit Recht verlassen, weil sie ungerecht und praktisch undurchführbar ist; denn es fehlt an jeder Möglichkeit, dem einzelnen den Wertanteil zuzumessen, den die Befriedigung kollektiver Bedürfnisse für ihn hat, und darnach die Steuern zu bestimmen. Unabsehbare Interessenkämpfe der einzelnen Klassen und Berufsgruppen gegeneinander um die Austeilung der Steuerlast würden die Folge einer erweiterten Anwendung des Interessenprinzipes sein. Man überlasse dieses den Gemeinden oder beschränke seine Anwendung auf diejenigen Fälle, in denen der Zusammenhang zwischen staatlicher Leistung und privatem Interesse ein sinnfälliger und nachweisbarer ist. Es ist möglich, dass

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/147&oldid=- (Version vom 12.9.2021)