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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

bei einsichtigen Männern des Parlaments das Fehlen jeglicher Tilgungsvorschrift als bedenklich empfunden zu werden. Man muss es als das Verdienst des Zentrums (Abg. Lieber) anerkennen, zuerst auf die Notwendigkeit einer Schuldentilgung nachdrücklich hingewirkt zu haben.

Die Massnahmen der Clausula Franckenstein, welche im Laufe der 80er Jahre den Einzelstaaten alljährlich erhebliche Beträge aus den Reichszöllen u. -steuern auch über die Matrikularumlagen hinaus zuwies, musste gegenüber der dabei stark steigenden Reichsverschuldung als eine unbedachte und in gewissem Masse leichtsinnige Finanzwirtschaft des Reiches erscheinen. So wurden denn auf Antrag derjenigen Partei, welcher die Verantwortung der Cl. Fr. in erster Linie zufiel, des Zentrums, die sog. leges Lieber erlassen, welche bestimmten, dass der grössere Teil des etwaigen Überschusses der Gesamtsumme aller Überweisungen an die Bundesstaaten über die Matrikularbeiträge des betr. Jahres hinaus zur Tilgung der Reichsschuld zu verwenden sei.[1] Leider erwiesen sich die Vorschriften der leges Lieber in der Wirklichkeit nicht als so nützlich, wie sie gedacht waren, weil sie Überschüsse voraussetzten, während die steigende Finanznot des Reiches seit Ende des 19. Jahrhunderts die glückliche Zeit der Mehrüberweisungen an die Bundesstaaten endgültig beseitigte.

Der Gedanke, in irgendeiner Form eine obligatorische Tilgung im Reiche einzuführen, kam gleichwohl nicht mehr zur Ruhe, um so weniger, nachdem Preussen in seinem Gesetze v. 8. 3. 97 (GS. S. 43) eine gesetzliche Prozentualtilgung durchgeführt (3/5%) und zugleich bestimmt hatte, dass alle rechnungsmässigen Überschüsse (die etatsmässigen Überschüsse waren schon nach Ges. v. 18. 12. 1871 (RGBl. 593) grundsätzlich zur Tilgung zu verwenden) zur ausserordentl. Schuldentilgung verwendet werden mussten. So wurde zunächst in der kleinen lex Stengel von 14. 5. 1904 (RGBl. S. 169) im § 2 bestimmt, dass – unter Abänderung des Art. 70 der RV. – in Zukunft etwaige Überschüsse aus den Vorjahren, insoweit durch den Reichshaushalt nicht ein anderes bestimmt wird, zur Deckung gemeinschaftl. ausserordentlicher Ausgaben dienen sollten, was einer Tilgung bezw. Schuldminderung gleichkam.

Weiter bestimmte der § 4 des Reichs-Ges. v. 3. 6. 06 (RGBl. S. 620), dass von 1908 ab jährlich 3/5% der Reichsschuld aus bereiten Staatsmitteln getilgt werden sollten (evtl. durch Verweisung auf Anleihe).

Aber es stellte sich bald heraus, dass alle gesetzlichen und Zwangstilgungen das Vorhandensein genügender laufender Mittel zur wesentlichsten Voraussetzung ihrer Wirksamkeit haben. Wenn beim Mangel solcher 1908 u. 1909 von der Durchführung der Bestimmung in § 4 a. a. O. abgesehen werden musste, so hatte diese beschämende Tatsache den guten Erfolg, dass man die durch die Reichsfinanzreform neu zu schaffenden Mittel reichlich genug bemass, um die erforderlichen Beträge für eine angemessene Schuldentilgung sicherzustellen. Die Erörterungen in der Öffentlichkeit über die enorme Schuldenvermehrung verfehlten ihre Wirkung auch auf das Parlament so wenig, dass auf Anregung aus dessen Mitte eine über die in Preussen festgesetzte Schuldentilgung noch weit hinausgehende Tilgung der Reichsschulden vorgeschrieben wurde. Nr. 3 des R. G. v. 15. 7. 09 (RGBl. S. 743) bestimmte, unter Ausserkraftsetzung der Tilgungsbestimmungen des RG. v. 1906, dass – abgesehen von etwa 100 Mill. Anleiheschulden, die in den letzten Jahren für Fernsprechanlagen, Reichseisenbahnen, Arbeiterwohnungen und Darlehen für Kolonien gemacht und mit besonderen Tilgungsplänen versehen waren, die aufrecht erhalten blieben, – alle bis 30. September 1910 aufgenommenen Anleihen mit mindestens 1%, die nach dieser Zeit aufgenommenen Anleihen, soweit sie für werbende Zwecke aufgenommen sind, mit mindestens 1,9%, alle anderen Schulden sogar mit mindestens 3% getilgt werden mussten. Die ersparten Zinsen, welche mit 3½% anzusetzen sind, müssen ebenfalls zur Tilgung verwendet werden. Die Tilgung kann ebenso, wie dies das Preuss. Tilgungsgesetz von 1897 vorgesehen hatte, auch durch Verrechnung auf Anleihe erfolgen. Doch hat man neuerdings, um die Kurse der Reichs- und Staatsanleihen zu heben, mehr auf den Rückkauf von Anleihetitres als auf Verrechnung auf Anleihen Wert gelegt (s. darüber den Artikel: Die Kurse unserer Reichs- und Staatsanleihen.)


  1. Näheres s. Schwarz u. Strutz, Staatshaushalt, Bd. III, Buch 3, S. 122.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/171&oldid=- (Version vom 15.9.2021)