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bei Neuemissionen den veränderten Marktverhältnissen durch schnellere Anpassung an den jeweiligen allgemeinen Zinsfuss Rechnung tragen, wobei die Politik der Pfandbriefinstitute ihnen vorbildlich sein kann. Sodann müssen sie in der Schuldenvermehrung grössere Zurückhaltung üben und müssen für eine fortdauernde angemessene Tilgung sorgen. Endlich müssen sie der Emissionstechnik, der Entwickelung des Marktes und seiner Pflege ihre dauernde und vollste Aufmerksamkeit widmen, dürfen den Markt nicht „sich selbst überlassen“, und müssen behufs Intervenierung mit Tilgungs- und sonstigen zur Verfügung stehenden Staatsgeldern rechtzeitig am Platze sein. Die Einführung gesetzlichen Zwanges zur Anlage gewisser Gelder und Vermögenswerte von Instituten und Gesellschaften, die ihre Mittel besonders liquide zu gestalten haben, dem Staate besondere Kosten für ihre Beaufsichtigung verursachen oder besondere Vorteile von ihm geniessen, ist ins Auge zu fassen, wird sich aber in Grenzen zu halten haben, welche nachhaltige allgemeinwirtschaftliche Schäden ausschliessen.

Den Staatsgläubigern müssen die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zum Bewusstsein gebracht haben, dass die Forderung unbeweglichen Zinsfusses und gleichzeitig stabiler Kurse eine unerfüllbare Utopie ist, und dass die grösste Sicherheit des Staatskredits die Kurssenkungen, welche die Erhöhung des allgemeinen Kapitalgebrauchswertes hervorruft, in Zeiten wirtschaftlicher Hochkonjunktur nicht verhindern kann. Wer in der ersten Hälfte der 90er Jahre, wo die Kurse der 3% und 3½% Staatspapiere im Laufe von 5 Jahren um 7 bezw. 14% gestiegen waren, wo die wirtschaftliche Unternehmungslust auf dem Nullpunkt stand, der Kapitalnutzungswert ein minimaler war und das Kapital, scheu geworden durch grosse wirtschaftliche Krisen und finanzielle Zusammenbrüche vieler Staaten, die Sicherheit von Kapital und Zins aufs höchste bewertete – wer damals Anleihen kaufte, in der Meinung, dass sich bei so geringer Verzinsung jene hohen Kurse dauernd halten dessen oder gar noch steigen würden, hat eben die Grundlagen der Preisbildung für Staatspapiere verkannt und kann hierfür nicht lediglich den Staat verantwortlich machen, selbst wenn die Staatsbehörden s. Zt. dem gleichen Irrtum unterlagen.

Die so gewonnene Erkenntnis muss zugleich den heutigen Rentenbesitzer und denjenigen, der einer Neuemission von Staatspapieren gegenübersteht, mit der Überzeugung erfüllen, dass mit rückläufiger Entwickelung der Wirtschaftskonjunktur und der allgemeinen Zinsverhältnisse, die sich nach Erfahrung und nach allgemeinen Wirtschaftsgesetzen immer mit Zeiten aufsteigender Tendenz ablösen werden, auch das Kursniveau der Staatspapiere wieder eine ansteigende Richtung nehmen wird. Mit dem Umschwung der Konjunktur, der in absehbarer Zeit eintreten muss, und mit den damit zumeist verbundenen wirtschaftlichen Zusammenbrüchen und oft auch finanziellen Schwierigkeiten kreditschwacher Staaten wird der Sicherheitsfaktor der Kapitalsanlagen wieder stärker in den Vordergrund treten. Dann werden auch den Staatswerten wieder zahlreiche Freunde und Käuferschichten zugeführt werden.



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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/189&oldid=- (Version vom 16.9.2021)