Seite:Handbuch der Politik Band 2.pdf/204

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

der vielseitigen Erwerbsmöglichkeit, die daselbst namentlich Gewerbe, Industrie und Handel bieten, einer starken Vermehrung ihrer Einwohnerzahl.

Einwohnerzahl absolut % der Gesamt-
bevölkerung
1885 1910 1885 1910
Landgemeinden (unter 2000 Einw.) 26 376 927 25 954 587 56,3 40,0
Landstädte (2000–5000 Einw.) 5 805 900 7 297 770 12,4 11,2
Kleinstädte (5000–20 000 Einw.) 6 054 600 9 172 333 12,9 14,1
Mittelstädte (20 000–100 000 Einw.) 4 171 900 8 677 955 8,9 13,4
Grossstädte (100 000 Einw. und darüber) 4 446 400 13 823 348 9,5 21,3

Während das Jahr 1885 noch 21 Grossstädte (mit über 100 000 Einwohnern) und eine Grossstadtbevölkerung von 4,4 Millionen zählte, sind es 1910[1] bereits 48 Grossstädte mit 13,8 Millionen. (In England gibt es 41, in Frankreich 15, in den Vereinigten Staaten von Amerika 50 Grossstädte.) Der Anteil der Grossstädte an der Gesamtbevölkerung stieg in diesen 25 Jahren von 9,5 auf 21,3%. In Wirklichkeit ist dieser Prozentsatz noch beträchtlich grösser, da die städtische Interessen- und Einflusssphäre noch weit über den Burgfrieden der einzelnen Stadt hinausreicht. Ausserdem haben sich Millionenkomplexe von Einheiten grossstädtischer Art herausgebildet, welche weiten Umgegenden einzelner Städte städtisches, speziell grossstädtisches Gepräge geben. Nimmt man noch die wirtschaftliche, technische und intellektuelle Bedeutung der Grossstadtbevölkerung hinzu, so kann man bereits von einem Überwiegen des Grossstadttums innerhalb unseres Volkstums sprechen und man versteht es, dass den Grossstädten heute die Führung im wirtschaftlichen, geistigen und künstlerischen Leben des Volkes gehört, wie sie auch zu den öffentlichen Lasten am meisten beisteuern.

Gross-Berlin zahlt beispielsweise allein etwa ein Viertel der direkten Staatssteuern Preussens oder soviel als die 7 preussischen Provinzen Ostpreussen, Westpreussen, Posen, Pommern, Brandenburg (ohne Gross-Berlin), Schlesien, Schleswig-Holstein zusammen. Der Haushalt der blossen „Stadt“ Berlin mit über 300 Millionen Mk. ist grösser als der württembergische Staatshaushalt (249 Mill. Mk. im Jahre 1911/12). Das Gewerbepersonal von Gross-Berlin wird nach Heinrich Silbergleit an Zahl nur vom Rheinland, von Sachsen und Bayern übertroffen; die 4 Provinzen Ostpreussen, Westpreussen, Posen und Pommern beschäftigen zusammen noch nicht 80% des Gewerbepersonals von Gross-Berlin; Württemberg und Baden zusammen erst 90%!

Einen so intensiven Verstadtlichungsprozess hat ausser Grossbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika wohl kein anderer Staat aufzuweisen. Dieser Prozess macht die städtische Kommunalwirtschaft immer verantwortungsvoller, geben doch die neuen Ziele und Aufgaben, vor die sie sich gestellt sieht, immer mehr und immer stärker an den Lebensnerv der Gesamtbevölkerung.

Selbstredend ist bei dem Anwachsen der Grossstädte auch die natürliche Vermehrung der heimischen Bevölkerung beteiligt. Allerdings machte sie nicht so viel aus als die Einverleibungen und Zuwanderungen. Nach der Berufszählung von 1907 waren von der grossstädtischen Bevölkerung 42% einheimisch (und dabei sind die Kinder eingerechnet, deren Eltern erst zugezogen sind und die daher selbst, wenn auch in der betreffenden Stadt geboren, noch keineswegs als waschechte Einheimische gelten können), 58% zugezogen. (In Berlin 59,5% Zugezogene, in Charlottenburg 81,4, München 59,5, Dresden 57,0%.) Diese Zuwanderung ist übrigens vielfach selbst Anziehungskraft für weiteren Zuzug, insofern als die betreffenden Städte eine grosse Anzahl steuerkräftiger Elemente empfangen, dadurch ihren Wohlstand vermehren, infolgedessen weniger Gemeindeumlagen zu erheben brauchen und auf diese Weise zu weiterer Zuwanderung aus ärmeren Gegenden anreizen. Allerdings ist die Zuwanderung nach Alter und Besitz für die einzelnen Städtegruppen nicht gleichartig. Je nach dem Charakter der Stadt als Industriestadt (z. B. Gelsenkirchen, Plauen) oder als Handels-, Verkehrs- und Konsumtionsstadt (z. B. Berlin, Frankfurt a. M.) oder als Konsumtions- und Beamtenstadt (Wiesbaden, München) rekrutieren sich die Einwanderer mehr aus Arbeiterschichten im zeugungsfähigen Alter und mit relativ früher Verehelichung, oder mehr aus Mittelklassen mit hohen Anteilen an Personen im reiferen, auch im hohen Alter.


  1. Einschliesslich der am 1. April 1911 zur „Stadt“ erhobenen Gemeinde Hamborn.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/204&oldid=- (Version vom 18.9.2021)