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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Ob in den wenigen Staaten, wo eine Erhöhung der Geburtenziffer nachgewiesen wird, wie in Portugal, Bulgarien, Rumänien, Argentinien, Chile, Japan, Ceylon etc. diese tatsächlich vorhanden oder nur die Methode der statistischen Erfassung eine andere ist, muss hier dahingestellt bleiben.

Der also auch in Deutschland bestehende Rückgang der Geburten ist an sich auffallend. Der Wohlstand hat bekanntlich in allen Schichten der Bevölkerung zugenommen, „der Anteil der einzelnen Bevölkerungsschichten an der Steigerung des gesamten Einkommens ist geradezu verblüffend gleichmässig“ (K. Helfferich). Auch die Frequenz der Ehen hat keineswegs nachgelassen. Zwar ist die Heiratsziffer vom Jahre 1901 bis 1912 von 8,24 auf 7,91 (1911: 7,85) ‰ gesunken. Aber die Ehehäufigkeit der 20 bis 25 Jahre alten Frauen ist gewachsen (von 124,9 auf 127,8‰), die Zahl dieser Ehen (256 490) ist etwas grösser als die Hälfte aller im Jahre 1911 geschlossenen. Bei den Ehen noch jüngerer Frauen war die Ehehäufigkeit 1911 ebenso gross wie 1901. Nur die Ehen der über 25 Jahre alten Frauen (der Zahl nach ⅛ der Gesamtheit) haben an Häufigkeit abgenommen. Es wird mehr und frühzeitiger als ehedem, insbesondere in den Arbeiterklassen geheiratet, das Heiratsalter hat sich verjüngt, die Ehedauer verlängert, der verheiratete Teil in den produktiven Altersklassen hat zugenommen.

Aber die Fruchtbarkeit der einzelnen Ehen ist zurückgegangen. Zwar bringt die unter 25 Jahre alte weibliche Bevölkerung auch jetzt nicht weniger Kinder zur Welt als in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Indessen, bei den über 25 Jahre alten Frauen ist ein starker Rückgang der Geburten erfolgt. Daher sind Ehen mit 3 und mehr Kindern nicht mehr so zahlreich wie früher. An dieser Gesamterscheinung sind die mittleren und oberen Klassen sowie die der Zahl nach besonders massgebenden Arbeiterschichten beteiligt.

II. Ursachen des Geburtenrückgangs.

Der Grund des Rückgangs der ehelichen Fruchtbarkeit ist weniger physiologischer Art, von Erschöpfung der Rasse kann wohl kaum eine Rede sein. Vielmehr handelt es sich hauptsächlich um freiwillige Beschränkung der Fruchtbarkeit, la fécondité est réglée par la volonté!

Diese Beschränkung beruht vorwiegend auf ökonomisch-rationalistischen Erwägungen und daneben auf sozial-pathologischen Ursachen, welch letztere zum Teil von ersteren mitveranlasst sind.

Mit der fortschreitenden Zivilisation gewinnt die bisher schon in gebildeteren Klassen vertretene wirtschaftliche Einsicht an allgemeinerer Ausdehnung und gleichzeitig suchen auch die unteren Schichten ihre Lebensführung zu verbreitern. Die wirtschaftliche Einsicht bringt eine höhere Wertschätzung und Pflege alles Lebens und damit eine bessere Fürsorge für die zur Welt gekommenen Kinder mit sich, man will Kinder nicht bloss in die Welt setzen, sondern bemüht sich, sie auch ordentlich aufzuziehen. Weil infolgedessen weniger Säuglinge sterben, werden aus wirtschaftlichen (auch aus psychologischen und physiologischen) Gründen weniger geboren.

Daneben erkennen mit fortschreitender Bildung immer weitere Massen der Bevölkerung, dass viele Kinder weder dem Interesse der Familie noch dem Interesse des einzelnen Kindes entsprechen, und gelangen so zu einer ähnlichen Rationalisierung des Geschlechtslebens, wie schon seither die höheren Klassen. Diese geburtenhemmende Erkenntnis wird besonders veranlasst durch die vielseitigen Bedürfnisse, die auch bei den Massen immer mehr hervortreten, und um deren Befriedigung man sich da bemüht, und durch die Erfahrung, dass mit steigender Kopfzahl der Haushaltung die blosse Nahrungsausgabe einen wachsenden Anteil am Gesamtaufwand beansprucht. Anderseits sind die gesteigerten Kosten von Einfluss, die die Aufziehung der Kinder, die Führung des Haushalts (namentlich eines grösseren Haushalts) bedingt angesichts der Teuerung, die in bezug auf Lebenshaltung, Ausbildung, Wohnung, Dienstbotenhaltung usw. in den letzten Jahrzehnten eingetreten ist. Solche Erwägungen ergreifen bei der zunehmenden Industrialisierung und Verstadtlichung der Bevölkerung einen immer grösseren Volksteil. Was speziell die Wohnungsfrage betrifft, so sind gerade die städtischen Wohnungsverhältnisse ein besonderes Moment für Kindereinschränkung innerhalb der breiteren Volksschichten. Je geringer die Einnahmen, um so höher ist erfahrungsgemäss

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/234&oldid=- (Version vom 22.11.2023)