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geschieht, muss für das ganze erste Jahr des Säuglings ermöglicht werden, da der nicht selten bestehende Mangel an frischer Wäsche und der nötigsten Pflegeutensilien sich gewöhnlich an der Gesundheit des Säuglings rächt. Zu dem Zweck erscheint nach dem Vorschlag von Dr. Reinach die gemeinnützige Errichtung von Säuglingsgegenständen- und -Wäschedepots im Anschluss an Säuglingsfürsorgestellen oder als eigene Institutionen zweifellos empfehlenswert. Auch die so erspriessliche Tätigkeit der Hauspflegevereine sollte noch weiter sich ausdehnen und speziell auf dem Lande mehr als bisher zur Geltung kommen.

Aber bei der Fürsorge für die Kinder im 1. Jahr darf es nicht bewenden. Die Säuglingsfürsorge ist auszugestalten in allgemeine Kinderfürsorge. Demgemäss sollten – nach dem Vorbild von Charlottenburg – die bestehenden Säuglingsfürsorgestellen fortgebildet werden zu Kinderfürsorgestellen, damit die Kinder vom 2. bis 6. Jahr, also die sogenannten Vorschulkinder oder Kinder im Spielalter, nicht länger hygienisch vernachlässigt werden. Nur durch derartige Fürsorge für die weiteren Vorschuljahre kann der durch die Pflege des ersten Jahres erreichte Erfolg gesichert werden und lässt sich neuen Gefahren wirksam begegnen, die nach dem ersten Jahr bei Hervortreten von gewissen Krankheiten (Tuberkulose, Rachitis, Skrofulose etc.) oder aus sozialen Ursachen (Not und Unvernunft der Eltern, schlechte Ernährung und Verwahrlosung der Kinder) sich ergeben. Bei solcher Kinderfürsorge ist anzunehmen, dass weit mehr Kinder als bisher das schulpflichtige Jahr erreichen und zugleich besser körperlich vorbereitet in die Schule zur geistigen Tätigkeit eintreten.

Hinsichtlich der Pflege für die Schulkinder ist in den letzten Jahren bereits viel geschehen durch Einführung von Schulärzten und sonstige schulhygienische Massnahmen (u. a. durch Walderholungsstätten und Waldschulen). Es wird auf diesem Gebiet noch weiteres geschehen können und müssen. Namentlich verdient dabei die schulärztliche Zahn-, Augen- und Ohrenpflege und entsprechende körperliche Erziehung sowie das System der „Arbeitsschule“ starke Berücksichtigung.

Da aber auch mit Verlassen der Schule die körperliche Entwicklung der Jugend keineswegs abgeschlossen ist, sondern erst den kritischen Gefahren entgegengeht, muss die Jugendfürsorge sich auf die Gruppe, die zwischen Schul- und Militärpflicht sich befindet, auf die sogenannten Jugendlichen noch ausdehnen. Die kriminellen Erscheinungen, die Verheerungen des Alkohols, die Beobachtungen der Krankenkassen, die Feststellungen beim Militärersatzgeschäft lassen eine solche Jugendpflege dringend geboten erscheinen. Auch hierbei muss Ertüchtigung der Jugendlichen (und zwar beiderlei Geschlechts) Hauptziel sein. Was die Turnvereine, Wehrkraftvereine, der Jungdeutschlandbund, die Sportvereine etc. in dieser Beziehung neuestens leisten, verdient Anerkennung und weitere Förderung. Aber daneben wird an die allgemeinere Einführung von Einrichtungen zu denken sein, die die erwerbstätige Jugend vor Schädigungen durch Berufsarbeit schützen. So sind in Schöneberg, Bremerhaven, Wien besondere Fortbildungsschulärzte angestellt, die bei den einzelnen Schülern prüfen, ob die für den erwählten Beruf erforderliche körperliche Befähigung vorliegt und ob etwa im Lauf der Lehrlingsausbildung Berufsschädigungen infolge konstitutioneller Minderwertigkeit oder Untauglichkeit für das spezielle Gewerbe in die Erscheinung getreten sind. Schwächliche Lehrlinge sollten entsprechend dem Vorschlag von Alfons Fischer in Waldarbeitsstätten gekräftigt werden, wo ihnen zugleich eine (theoretische und praktische) Ausbildung in geeigneten Gewerbearten zuteil werden kann. In Düsseldorf und Strassburg besteht neben der ärztlichen Berufsberatung, die in schulärztlichen Sprechstunden von städtischen Schulärzten den zur Entlassung kommenden Volksschülern in bezug auf die Berufswahl erteilt wird, neuerdings ein besonderes Berufsberatungsamt mit Lehrstellennachweis, seine Tätigkeit erstreckt sich nicht nur auf die Volksschüler, sondern auch auf die Schüler der mittleren und höheren Schulen und auf die Fortbildungsschüler, es leistet eine wirksame Mitarbeit an der Jugendpflege.

Schon im vorausgehenden ist wiederholt angedeutet, wie wichtig es ist, dass neben der Quantität auch die Qualität der Volksreproduktion, auch die Güte des Nachwuchses gesichert wird. In dieser Beziehung warten der Rassenhygiene grosse Aufgaben. Sie muss ergänzend an die Seite der Sozialpolitik treten und durch Aufklärung es zur guten Sitte, wenn nicht gar zum Gesetz bringen, dass die Gattenwahl rassenhygienisch gewissenhaft getroffen wird (Kreuzung mit gesundem Stamm) und eine minderwertige gehemmt wird. Auch eine künstliche Beschränkung der

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/246&oldid=- (Version vom 22.11.2023)