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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Industrie und Landwirtschaft zu akzeptieren. Und diese Parteien erfassten schnell und energisch die Notwendigkeit, die durch die Situation gegeben war, während die Nationalliberalen mehr oder weniger zögernd und nur zum Teil auf die Wirtschaftspolitik Bismarcks eingingen und die Freisinnigen von ihr den Ruin Deutschlands weissagten. Allmählich hat nun auch hier eine Annäherung der andern Parteien an den Standpunkt der Konservativen sich vollzogen. Die Nationalliberalen sind namentlich seit der „Heidelberger Erklärung“ zu einer entschlosseneren Schutzzollpolitik übergegangen. In der freisinnigen Partei gibt es noch zahlreiche radikale Freihändler; aber es bricht sich auch in ihr nach und nach die Überzeugung Bahn, dass wenigstens von einem vollständigen Abbruch der Schutzzollpolitik nicht die Rede sein kann. Bezeichnend ist es, dass die Freisinnigen beiden letzten Reichstagsverhandlungen über die Dampfersubvention für diese gestimmt haben, die ihnen früher als Gipfel der Verkehrtheit erschien. Jedenfalls findet heute der Schutzzoll in Kreisen Anerkennung, die ihm 1878 noch ganz ablehnend gegenüberstanden, und jedenfalls haben die wirtschaftlichen Verhältnisse Deutschlands unter diesem System einen gewaltigen Aufschwung genommen. Gegenwärtig stehen wohl einzelne Schutzzölle zur Diskussion. Es wird jedoch in zunehmendem Masse anerkannt, dass eine vollständige Öffnung der Grenzen einer Kapitulation Deutschlands gleichkommen würde.

Wie angedeutet, treten die Konservativen ebenso für industrielle wie agrarische Zölle ein. Der Vorwurf, dass sie eine einseitig agrarische Partei seien, dass von ihnen sogar nur das Interesse der ostelbischen Landjunker wahrgenommen werde, trifft nicht zu. Ausser den Gegengründen, die in dem bereits Gesagten liegen, mag hier folgendes geltend gemacht werden. Jede politische Partei hat sich heute in ihrem Kreise mit einer wirtschaftlichen oder sozialen Gruppe auseinanderzusetzen; es kommt dann darauf an, dass diese nicht die Alleinherrschaft in ihr gewinnt. Eine solche Situation teilt die konservative Partei mit den anderen Parteien; allen kann die Gefahr drohen, dass sie durch eine rein wirtschaftliche oder soziale Gruppe und einen für deren unmittelbare Zwecke geschaffenen Verband einseitig beeinflusst werden. Dass die konservative Partei in agrarischen Interessen nicht aufgeht, dafür spricht schon der Umstand, dass sie starke Anhängerschaften in städtischen Kreisen (so besonders im Königreich Sachsen) findet. Ohne Zweifel würde ein blosses Plus geeigneter Agitation genügen, ihr hier eine noch grössere Verbreitung zu geben; das Programm ist durchaus danach angetan. Beachtung verdient es ferner, dass die konservative Partei die Bestrebungen der Regierung auf dem Gebiet der innern Kolonisation unterstützt. Zwar haben Grossgrundbesitzer als einzelne Abneigung gegen sie bekundet. Dagegen die Partei hat die innere Kolonisation stets als notwendig bezeichnet. Das preussische Enteignungsgesetz wäre weder im Abgeordnetenhaus noch im Herrenhaus[1] ohne die Konservativen angenommen worden. Die konservative Partei sieht es als eine ihrer Hauptaufgaben an, sich der heute von mehreren Seiten bedrohten Landwirtschaft energisch anzunehmen. Ein solches besonderes Verhältnis zu einem bestimmten Wirtschaftszweig ist aber gegenwärtig, wo die Stellung des Staats zum Wirtschaftsleben erhöhte Bedeutung gewonnen hat, bei jeder Partei zu beobachten, und es kann bei unbefangener Beobachtung auch nicht bestritten werden, dass die Landwirtschaft besonderer Aufmerksamkeit bedarf.[2]

Durch die seit 1878 eingeführten Schutzzölle sind die Einnahmen des Reichs ausserordentlich vermehrt worden. Die Frage, ob das Reich allein auf indirekte Reichssteuern angewiesen sein solle, wurde zur Zeit der Reichstagsverhandlungen über die Erbschaftssteuer (1909) lebhaft diskutiert. Viele Mitglieder der deutschkonservativen Partei bejahten sie. Aber wie die deutschkonservative Reichstagsfraktion die Stellung zur Erbschaftssteuer nicht zur Parteiangelegenheit machte, sondern frei gab, so haben auch namhafte Konservative (z. B. Prof. Zorn; von den konservativen Zeitungen z. B. der „Reichsbote“) jene Frage verneint. Die Reichspartei hat der Erbschaftssteuer


  1. Bemerkenswerte Daten hierzu s. in meiner angeführten Schrift S. 131 ff.
  2. Eine Rechtfertigung der Begründung des „Bundes der Landwirte“ findet man in dem „Politischen Handbuch der Nationalliberalen Partei“ (abgeschlossen Dezember 1907), Berlin, Verlag der Buchhandlung der Nationalliberalen Partei, S. 631, in dem Art. über die konservative Partei. Der Art. über den Bund der Landwirte. S. 259 ff. ist überwiegend kritisch gehalten. Vgl. ferner meine angeführte Schrift S. 36 und S. 38 Anm. 20.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/25&oldid=- (Version vom 29.8.2021)