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mehr oder weniger obrigkeitlich oder autonom geregeltes „Amt“ verwandelt hatte. Sie war zugleich das Rückgrat der städtischen Wirtschaftspolitik, welche sich unter ihrem Einfluss nach den ersten freieren Jahrhunderten überall ausbildete, mit dem Ziel, aus jeder Stadt und dem sie umgebenden Land eine „autarke“ Wirtschaftseinheit zu machen, in der möglichst alles erzeugt wurde, was man brauchte, mit Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land, Bürger und Bauer: die „Stadtwirtschaft“.

Diese Zunftverfassung und -Herrschaft bestand in Deutschland, trotz der auch hier zum Teil schon im 15. Jahrhundert, allgemein seit dem 16. Jahrhundert, sich entwickelnden Missstände und Auswüchse, infolge der allgemeinen politischen Entwicklung besonders lange. Diese hat bekanntlich das ganze Deutschland nicht wie die Nachbarländer seit dem 16. Jahrhundert eine politische Neugestaltung im Sinne der Zentralisation durch den modernen absoluten Staat erleben lassen, sondern diese Entwicklung in die einzelnen Territorien gedrängt, von denen aber nur wenige, eigentlich nur Preussen, gross und stark genug waren, das Beispiel der Wirtschaftspolitik der Nachbarländer nachzuahmen. Zwar versuchte auch das alte heilige römische Reich deutscher Nation, durch zahllose, schon in ihrer Wiederholung ihre Fruchtlosigkeit zeigende Reichstagsabschiede den Missbräuchen im Handwerk zu steuern und ein einheitliches Reichsgewerberrecht zu schaffen, aber auch der Reichstagsabschied von 1741, der endlich Erfolge erzielte, erreichte sie doch nur durch die Hand der Einzelstaaten, insbesondere in Preussen.

Dieser Staat war überhaupt so ziemlich der einzige, welcher durch seinen Umfang und die eigentümlichen Verhältnisse seiner verschiedenen Landesteile – die Mark Brandenburg und Schlesien der Sitz einer ersten industriellen Entwicklung, die übrigen Provinzen ihre agrarischen Hinterländer – in der Lage war, die in den grossen Nachbarstaaten ausgebildete Wirtschaftspolitik des modernen absoluten Staates, den „Merkantilismus“, nachzuahmen. Er herrschte denn auch unter Friedrich dem Grossen wie unter seinem Nachfolger ganz in den bekannten Formen auf dem Gebiete der Gewerbepolitik und Handelspolitik. Auf ersterem erfolgte daher nicht nur eine einheitliche Regelung des Zunftwesens in Durchführung des Reichszunftgesetzes von 1741, sondern auch eine entsprechende Reglementierung der neuen, ersten kapitalistischen Betriebsform des Gewerbes, deren Aufkommen die Zünfte trotz ihrer langen Herrschaft auch in Deutschland nicht zu hindern vermocht hatten, der Hausindustrie oder des „Verlagssystems“. Des weiteren wurde die dritte gewerbliche Betriebsform der Fabrikindustrie i. w. S., zunächst der „Manufaktur“, wie in den anderen merkantilistischen Staaten so auch hier in der bekannten Weise, namentlich unter Heranziehung und Verwertung ausländischer Einwanderer, insbes. der französischen Emigranten, in jeder Weise vom Staate gefördert oder selbst unternommen. Auch die gewerbliche Arbeiterfrage, welche schon zur Zeit der Zunftherrschaft durch die fortschreitenden Erschwerungen des Meisterwerdens und die Produktion einzelner Handwerke für den Welthandel insofern entstanden war, als nicht mehr alle Gesellen Meister zu werden vermochten, sondern eine selbständige Arbeiterklasse aus ihnen zu werden anfing, fand durch den absoluten Staat hier schon eine gewisse Regelung und Lösung.

Aber diese weitgehende Reglementierung und Bevormundung wurde auch hier, nachdem die Industrie sich mit ihrer Hilfe in gewissem Masse entwickelt hatte, schliesslich als lästig empfunden, und so gehörte ihre Beseitigung, nach dem in Frankreich von Turgot und dann von der grossen Revolution gegebenen Beispiel, durch Einführung der „Gewerbefreiheit“ auch zu dem Programme Hardenbergs und bildet die zweite jener grossen liberalen Reformen. Sie erfolgte im Jahre 1810. Es dauerte dann allerdings bis zum Jahre 1845, ehe sie auch in den neuen Provinzen, also in dem ganzen grösseren Preussen, einheitlich durchgeführt war, und das Jahr 1848 brachte hier, im Gegensatz zu den anderen Gebieten des Wirtschaftslebens, durch die beginnende Handwerkerbewegung mit der Deklaration von 1849 schon wieder einen Rückschlag. Er wurde aber durch die Gründung des Norddeutschen Bundes mit der Einführung der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund, der nachmaligen Reichsgewerbeordnung, die ganz auf dem Boden der Gewerbefreiheit stand, wieder beseitigt. Inzwischen war in den 60er Jahren auch in den anderen deutschen Staaten die Gewerbefreiheit nach und nach eingeführt worden, aber diese Gesetze

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/252&oldid=- (Version vom 25.9.2021)