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tierischen und menschlichen Organismus. Daher stammt der Name Physiokratie, und der Hauptsatz, durch den die Lehre nachhaltige Bedeutung gewonnen hat, liegt in dem Grundsatz „Laissez faire, laissez passer, le monde va de lui-même“. – Dieses System fand in Frankreich bald eine verhältnismässig grosse Anhängerschaft: Auf dem Boden der Quenay’schen Lehre stand insbesondere der zeitweilige Finanzminister Turgot in seinen „Réflections sur la formation et la distribution des richesses“, der sich jedoch von den Uebertreibungen des Physiokratismus fernhielt in der Würdigung der Arbeitsteilung, des Geldes, des Kapitals und Lohnes, wo er vielfach schon Lehren aufstellte, die später erst durch Adam Smith und Ricardo allgemeine Verbreitung erlangt haben.

5. Adam Smith und die Freihandelslehre.

Adam Smith war es jedoch erst vergönnt der Freihandelslehre ihre siegreiche Formulierung zu geben. In seinem weltberühmten Werke „Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations“ 1773 lässt er zwar Zölle für Industrien, auch Retorsions- und Steuerausgleichszölle zu und spricht sich gegen die plötzliche Aufhebung der Schutzzölle für von Alters her geschützte, viele Menschen beschäftigende Gewerbe aus, aber alle übrigen Massnahmen des Merkantilismus erscheinen ihm unberechtigt, weil sie durch die Klassenherrschaft der Interessenten erschlichen seien. Die hohen Schutzzölle, die Aus- und Einfuhrverbote, das Kolonialsystem leiteten Kapital und Arbeit in falsche Bahnen, verursachten eine Verteuerung der Produkte und schafften ungerechte Monopole. Smith’s Hauptvorstellung ist folgende: Die einen Staaten können gewisse Waren billiger und besser als andere herstellen; wenn jede Nation das produziert, was sie billiger und besser machen kann, haben alle Nationen davon einen Vorteil; wenn jeder Staat dort verkauft, wo er einen höheren Preis erzielt und dort einkauft, wo die Ware billiger als in der Heimat ist, kann er nur gewinnen. Handele man nicht nach diesem Grundsatz, so verteure man das Leben und vermindere die Konsumtion. Die Schutzzölle könnten die Gesamtproduktion gar nicht erhöhen, da diese von der vorhandenen Kapitalmenge abhänge. Das Interesse der Konsumenten an der grösstmöglichsten Billigkeit der Waren solle allein für die Handelspolitik der Völker ausschlaggebend sein. Deshalb beruhe das Gedeihen eines Landes auch nicht auf der wirtschaftlichen Abschliessung, sondern auf dem freien Austausch der Güter, weil dann jedes Land in die Lage komme, gerade jene Waren zu produzieren, die es unter Aufwendung der geringsten Kosten hervorzubringen vermag.

6. Die Freihandelsschulen a) in England, b) in Frankreich, c) in Deutschland.

a) In England wurde der Smith’sche Gedanke, dass die Zollgesetzgebung tiefer Veränderungen in freihändlerischem Sinne dringend bedürfe, von wirkungsvollen Schriftstellern wie Perronet Thompson (Catechism on the cornlaws 1827), Ebenezer Elliot und Miss Martineau lebendig erhalten. 1836 bildete sich in London auf Anlass einer Anzahl fortgeschrittener Liberaler, wie Grote, Roebuck, Joseph Hume ein Verein zur Bekämpfung der Getreidezölle, eine Anti-corn-law-association, deren Mitglieder in Wort und Schrift für die freihändlerischen Grundsätze eintraten. Im September 1838 wurde die Anti-Corn-Law-League gegründet, die gleiche Tendenzen verfolgte und unter der Führung von John Bright und Richard Cobden den Anstoss zu den grossen handelspolitischen Reformen von 1842–1860 gab. Die Reformbewegung veranlasste wiederum einen festen Zusammenschluss der Schule, die neben wissenschaftlichen Vertretern wie Mac Culloch, James Mill, Senior Mocanlay u. a. auch zahlreiche bedeutende Tagesschriftsteller zu ihren Anhängern rechnete. Die neueren wissenschaftlichen Schriftsteller, wie z. B. Stanley Jevons blieben im allgemeinen der orthodoxen Freihandelslehre treu, nur dass sie in Bezug auf Arbeiterschutz und sonstiges sozialpolitisches Eingreifen des Staates – wie schon früher J. St. Mill – grössere Zugeständnisse machten. – Mit dem Jahre 1860 ist bekanntlich England ganz zum Freihandel übergegangen und diesem handelspolitischen System bis zum heutigen Tage treu geblieben.

b) In Frankreich führte J. B. Say die Smith’sche Freihandelslehre ein. Seine Nachfolger, wie Rossi, A. Blanqui, L. Faucher, Dunoyer, Bastiat, M. Chevalier, Samte Beuve, Garnier u. a. waren in ihren Schriften mit vereinten Kräften bemüht, das Freihandelsprinzip auch in der französischen Wirtschaftspolitik zur Geltung zu bringen. Die Gewerbefreiheit war allerdings schon seit der Revolution eingebürgert, aber der auswärtige Handel blieb trotz aller Bemühungen der Theoretiker durch

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/259&oldid=- (Version vom 26.9.2021)