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ein starres Hochschutzzollsystem beschränkt bis endlich Napoleon III. durch den Handelsvertrag mit England 1860 eine Tarifreform durchsetzte. Während unter der Republik die schutzzöllnerischen Tendenzen wieder die Oberhand gewannen, blieben die Vertreter der Wissenschaft, von denen namentlich P. Leroy-Beaulieu und die Herausgeber des „Journal des Economistes“ Molinari und Yves Guyot zu nennen sind, den Grundsätzen der Freihandelsschule treu.

c) In Deutschland standen die wissenschaftlichen Vertreter der Volkswirtschaftslehre in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie Kraus, E. Lotz, Rau, Herrmann, Roscher meistens auf den Boden der Smith’schen Lehre, ohne indessen den Freihandel zu dem eigentlichen entscheidenden Schulprinzip zu machen. Als in den 50er Jahren durch die aufsehenerregende List’sche Theorie der Schutz- resp. Erziehungszölle der Streit der Meinungen um die handelspolitischen Grundsätze heftiger entbrannte, bildete sich auch in Deutschland eine Freihandelsschule, die hauptsächlich aus Publizisten und Politikern bestand. Zu diesen gehörten Männer, wie Prince Smith, Michaelis, K. Braun, Max Will, L. Bamberger, Böhmert, Emminghaus, Soetbeer, Max Wirth u. a. Auch Abhandlungen von Wappäus, Otto Hübner, Schmidlin bekämpften den Schutzzoll. Seit 1854 fand die Richtung im Bremer Handelsblatt zuerst unter dem Redakteur Klauhold ein einflussreiches periodisches Organ. Seit 1856 erschien in Heidelberg die von Böhmert begründete „Germania“, die dann auf Pickford überging und unter ihm noch strenger freihändlerischen Charakter annahm. Eine ganz Deutschland umspannende Organisation erhielt dann die erstarkte Partei in dem „volkswirtschaftlichen Kongress“, der sich zum ersten Male 1858 in Gotha vereinigte, von da an alljährlich abwechselnd in den verschiedensten Städten zusammentrat und unter der Führung von Karl Braun, Präsident Lette und später Prince Smith mit seinen Verhandlungen und Beschlüssen in den gewerblichen Kreisen, sowie bei den Staatsregierungen grosse Beachtung fand. Der 1861 begründete deutsche Handelstag und auch die Landwirtschaft unterstützte bis in die zweite Hälfte der 70. Jahre hinein die Bestrebungen des Kongresses, um dann jedoch in das schutzzöllnerische Lager mehr und mehr überzugehen. Die 1863 von Julius Faucher begründete Zeitschrift „Vierteljahresschrift für Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“ enthält wissenschaftlich bedeutende Beiträge der obengenannten begabtesten Anhänger der Freihandelslehre. Auch das im Jahre 1866 von Rentsch herausgegebene Handwörterbuch der Volkswirtschaftslehre ist von einer Anzahl namhafter Freihändler verfasst und vertritt ihren Standpunkt. – Grossen Abbruch tat der Schule seit dem Antrag der 70er Jahre ihre einseitig freihändlerische Stellungnahme zu der Arbeiterfrage, die teilweise so weit ging in Abrede zu stellen, dass es überhaupt einen besonderen Arbeiterstand gebe, und es für undenkbar hielt, dass dessen Interessen erheblich von denen anderer Klassen abweichen könnten. Sie fusste auf der Bastiat’schen Harmonielehre und hielt ein staatliches Eingreifen zum Schutze der wirtschaftlich Schwachen nicht für angebracht, als infolge der jungen grossindustriellen Entwickelung mit ihren anfangs noch unbehobenen sozialen Schädigungen die Arbeiterbewegung bereits in vollem Gange war. Angesichts der Gestaltung der sozialen Verhältnisse wuchs denn auch von Jahr zu Jahr der Zweifel, ob die so bequeme Lösung des „laissez faire, laissez passer“ allen wirtschaftlichen Problemen gerecht werden könne und liess die Freihändler schliesslich einen grossen Teil der Autorität einbüssen, die sie bis gegen Ende der 70er Jahre bei den Massen, sowie in den akademischen Kreisen besessen hat. Während die Arbeiterschaft in die Gefolgschaft der von Marx, Lasalle, F. A. Lange und Rodertus entwickelten Grundanschauungen trat und sich den Dogmen des Sozialismus zuwandte, vereinigte sich eine Anzahl hervorragender Universitätslehrer (die Kathedersozialisten) im Verein für Sozialpolitik, der mit vollem Erfolge die geistige Führung in der sozialpolitischen Reformbewegung übernahm. Auch hinsichtlich der Handelspolitik haben sich in den letzten 35 Jahren die Anschauungen der Nationalökonomen erheblich gewandelt: Zum Teil hat die Schutzzolltheorie wieder Anhänger gefunden. Gelehrte wie Ohlenberg traten für die Autarkie, die Unabhängigkeit der Volkswirtschaft vom Auslande, ein. Adolf Wagner, Pohle, v. Mayr fordern eine Begünstigung der ihrer Meinung nach wichtigeren Landwirtschaft vor der Industrie. Bei wieder anderen hervorragenden Universitätslehrern, wie z. B. bei Schmoller und seinen Schülern, herrscht die Ansicht vor, dass die Frage, ob Freihandel oder Schutzzoll nicht nach einem prinzipiellen Axiom, sondern nach den gegebenen konkreten Umständen mit Rücksicht auf das allgemeine Wohl, nicht aber mit Konivenz gegen einseitige Interessen zu entscheiden sei. Doch besitzt auch heute noch die wissenschaftliche Freihandelstheorie

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/260&oldid=- (Version vom 26.9.2021)