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entschiedene Verfechter in bedeutenden Nationalökonomen, wie L. Brentano, Dietzel, Lotz, Alfred Weber und Karl Hellferich.

7. Die Freihandelsaera in der Staatspraxis a) Englands, b) Deutschlands, c) Frankreichs, d) Russlands.

a) In der Staatspraxis der europäischen Mächte hat das Freihandelsprinzip am frühesten in England Anklang gefunden. Dies erklärt sich ohne weiteres daraus, dass England’s Industrie bereits zur hohen Blüte gelangt war, als die Industrien der anderen europäischen Mächte ihre ersten Gehversuche machten. Zu einer Zeit, da England’s Industrieprodukte ihren Eroberungszug durch die Welt antraten, und eine fremde Konkurrenz nicht zu fürchten hatten, erschienen Einfuhrverbote nicht von Nöten. Auch musste es das Bestreben der Regierung sein, offene Märkte in anderen Ländern zu gewinnen und die eigenen Produktionskosten niedrig zu halten. In den Produktionskosten der Industrie spielt aber die Lebenshaltung der Arbeiter eine wichtige Rolle, und deshalb richtete sich die Freihandelsbewegung in England zunächst hauptsächlich gegen die Kornzölle. Unter dem ausgezeichneten Staatsmann Sir Robert Peel wurden gelegentlich der sogenannten „Peel’schen Reformen“ die Getreidezölle in den Jahren 1843 und 1845 wesentlich herabgesetzt. Die Differenzialzölle zu Gunsten des westindischen Zuckers wurden 1848, die Navigationsakte 1850 aufgehoben. Von Februar 1849 an wurde für Weizen nur noch eine statistische Gebühr erhoben, die schliesslich 1869 ebenfalls fortfiel. In der Zeit, als Gladstone die englischen Finanzen leitete, wurde der Zolltarif für 133 Warengattungen stark ermässigt, und 123 andere Warengattungen wurden für zollfrei erklärt. Die letzten Reste des Schutzzolles wurden im Wege der Kompensation im Handelsverträge mit Frankreich vom 23. Februar 1860 und in den folgenden Verträgen geopfert; auch die früher bestandenen Begünstigungen für einzelne Kolonialprodukte wurden aufgehoben. Seit jener Zeit enthält der englische Zolltarif nur noch sogenannte Finanzzölle (auf Kaffee, Thee, Tabak, Bier, Wein, Spirituosen etc.), welche nicht durch ein Schutzbedürfnis, sondern durch fiskalische Motive bedingt sind.

b) In Preussen bedeutete das Zollgesetz vom 21. Mai 1816, das neben Finanzzöllen nur noch mässige Abgaben auf Getreide und Fabrikate enthielt und alle Verbote beseitigte, die Abkehr vom Merkantilismus. Diese gemässigte schutzzöllnerische Politik setzte Preussen auch in dem seit 1834 bestehenden preussisch-deutschen Zollverein fort, z. T. mit der Absicht, das hochschutzzöllnerische Oesterreich am Beitritt zu verhindern. Die eigentliche freihändlerische Tarifreform wurde durch den preussisch-französischen Handelsvertrag vom 29. März 1862 eingeleitet. In Deutschland schloss der deutsche Zollverein im Jahre 1865 Tarif- und Meistbegünstigungsverträge mit Belgien, England und Italien ab. Nach seiner Neukonstituierung im Jahre 1866 wurde durch die Tarifvorlagen von 1868 und 1870 die Absicht kundgegeben, eine systematische Herabsetzung und schliessliche Beseitigung der Zölle herbeizuführen. Es ist bekannt, dass die deutsche Freihandelspolitik unter der Aera Delbrück in dem Gesetz von 1873 über die Aufhebung der Eisenzölle gipfelte. Auch Bismarck trat bis Anfang 1877 für die Ausgestaltung des Zolltarifs in der Richtung reiner Finanzzölle ein. Mit diesem Jahre, welches eine nochmalige Herabsetzung der Eisenzölle brachte, erreichten die freihändlerischen Reformen ihren Höhepunkt und gleichzeitig ihr Ende.

c) In Frankreich kam erst mit Napoleon III. ein überzeugter Freihändler auf den Thron. Trotz heftiger Opposition im Lande schloss er auf Grund des ihm von der französischen Verfassung gewährten Rechts ohne Mitwirkung der Volksvertretung, den bereits erwähnten Handelsvertrag mit England von 1860 ab, in welchem sich die französische Regierung verpflichtete, die Einfuhrverbote aufzuheben und Schutzzölle einzuführen, deren Höhe 30%, und vom 1. Oktober 1864 ab 25% vom Warenwerte nicht übersteigen sollten. Durch das Gesetz vom 19. Mai 1866 wurden schliesslich zahlreiche Privilegien abgeschafft, welche die französische Handelsmarine durch das Monopol auf die Küstenschiffahrt und durch die für Schiffe fremder Flaggen geltenden Zuschläge genoss. Unter der Republik gewannen dann die protektionistischen Tendenzen wieder mehr und mehr die Oberhand.

d) In Russland begann sich in den 60er Jahren in den gebildeten Kreisen eine freihändlerische Richtung bemerkbar zu machen, die nicht ohne Einfluss auf die Regierung blieb und diese zu der Tarifreform von 1868 veranlasste. Der fragliche Zolltarif setzte an Stelle des bisherigen starren Hochschutzzoll- und Prohibitivsystems Schutzzölle von mässigerer Höhe. –

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 245. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/261&oldid=- (Version vom 26.9.2021)