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und Staat und ihre praktische Betätigung in der Gesetzgebung“. Dass das religiöse Motiv nicht für alle politischen Fragen den Ausschlag geben kann und dass diese nicht sämtlich religiös bestimmbar, dass ferner die Mittel und Funktionen des Staats notwendig weltlich und nicht religiös-sittlich sind, dass die staatlichen Gesetze sich nur auf das äussere Handeln richten, wird in der konservativen Literatur ausdrücklich hervorgehoben.[1] Dem Staat wird „das Recht zuerkannt, kraft seiner Souveränität sein Verhältnis zur Kirche zu ordnen“; andererseits wird gegen ein „Übergreifen der staatlichen Gesetzgebung auf das Gebiet des inneren kirchlichen Lebens“ Verwahrung eingelegt. Prinzipiell wird die konfessionelle Volksschule verlangt. Doch beweist das preussische Gesetz über die Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen vom 28. Juli 1906 (welches von den Konservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen gemeinsam bewilligt ist), dass die Konservativen aus schultechnischen Erwägungen eine Einschränkung des Prinzips für zulässig erachten. Einzelne Konservative haben sich mit dem Gedanken der Trennung von Staat und Kirche befreundet. Die Partei lehnt ihn ab (mit Rücksicht auf die wünschenswerte Einwirkung der Kirche auf das Volksleben und die Ausbildung der Geistlichen), tritt jedoch „für das gute Recht der evangelischen Kirche auf selbständige Regelung ihrer inneren Einrichtungen“ ein. Wie schon angedeutet, ist der konservativen Partei die historische Aufgabe zugefallen, dem positiven Christentum in der evangelischen Kirche freie Luft zu verschaffen. Die Verbindung bestimmter kirchlicher Richtungen mit bestimmten politischen Parteien ist eine Folge der Existenz stark differierender theologischer Richtungen in der protestantischen Kirche (unter der Voraussetzung der bestehenden engeren Verbindung von Staat und Kirche). In Preussen, mit seiner starken konservativen Partei, besteht jedoch Parität für die verschiedenen theologischen Richtungen (die Hälfte der theologischen Lehrstühle ist mit liberalen Theologen besetzt), während in den Staaten mit ausschlaggebender liberaler Partei im Landtag (Baden, Hessen, Thüringische Staaten) die Vertreter der positiven Theologie so gut wie ganz von den Universitäten ausgeschlossen sind.

Die freikonservative Partei unterscheidet sich in der Kirchenpolitik von der deutschkonservativen insofern, als sie etwas stärker das Recht des Staats betont, ferner in einem weniger nahen Verhältnis zu bestimmten kirchlichen Richtungen steht und in den parlamentarischen Verhandlungen eine Verständigung mit den Nationalliberalen zu vermitteln gesucht hat.

In neuester Zeit hat die freikonservative (Reichs-) Partei sich in Süddeutschland organisiert, so in Baden 1907, in Bayern 1911 (vgl. Frh. v. Pechmann in d. Allg. Zeitung vom 19. Okt. 1912), in Hessen 1912 (hier die Deutschkonservativen mit umfassend).






b) Christlich-Soziale.
Von
D. Ludwig Weber, München-Gladbach.


Die christlich-soziale Partei entstand 1878 als „Arbeiterpartei“ durch Hofprediger Stöcker unter Mithilfe von Professor Dr. Adolf Wagner. Als Stöcker von Metz nach Berlin kam, fand er die Mächte des Umsturzes damals schon in vollster, zügellosester Arbeit. Gründerära, Kulturkampf, Kirchen- und Wohnungsnot, eine schlechte Presse, Mangel an sozialer Reformtätigkeit und völlige Fühlungslosigkeit zwischen Besitzenden und Arbeitern hatten eine Verwirrung und Vergiftung der Volksseele herbeigeführt, und niemand wehrte ihr. Da trieb Stöcker „die Angst um


  1. Vgl. z. B. R. Seeberg, Christlich-protestantische Ethik, in: Kultur der Gegenwart I, IV, 2. S. 223 Derselbe. System der Ethik (Lpz. 1911).
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/27&oldid=- (Version vom 29.8.2021)