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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Sorge der Steigerung landwirtschaftlicher Produktivität gilt. Die durch das Gesetz des abnehmenden Bodenertrages bedingte Grenze der Produktivität ist in Deutschland noch nicht annähernd erreicht, sodass wir hoffen dürfen, einen erheblichen Teil dieses Imports nach und nach im Inlande decken zu können. In Sonderheit wird durch grosszügige Kolonisation, d. h. durch Schaffung von Bauerngütern im Osten der Preussischen Monarchie sowie durch Kultivierung unseres Moorbodens noch ausserordentlich viel getan werden können.

Pflege der deutschen Landwirtschaft bleibt aber nicht nur aus Gründen der Ernährung für alle Zeit eine unserer hauptsächlichsten Aufgaben, sondern auch aus anderen Gründen. Eine starke landwirtschaftliche Bevölkerung sichert die fortdauernde Regeneration der Gesamtbevölkerung in physischer und moralischer Beziehung. Hierzu kommt, dass eine Industrie mit überwiegendem Weltmarkt weniger gut fundiert und internationalen Wirtschaftskrisen besonders stark ausgesetzt ist. Eine kaufkräftige Landwirtschaft muss der Industrie den Rückhalt geben. Sehr erheblich ist ferner, dass die Entwicklungstendenz in der landwirtschaftlichen Betriebsform (im Gegensatz zur Industrie) zum Klein- und Mittelbetrieb drängt, der sich gegenüber dem Grossbetrieb als durchaus konkurrenzfähig zeigt. Die Marxistische Konzentrationstheorie trifft, wie heute allgemein feststeht, für die Landwirtschaft nicht zu. Die soziale Differenzierung in der Industrie (zunehmende Abhängigkeit) erhält demnach durch diejenige in der Landwirtschaft ein starkes und sehr erwünschtes Gegengewicht. Eine Tatsache, die den Soziologen Schäffle bekanntlich zu der Äusserung veranlasst hat: Es werde an den Schädeln der Bauern der Sozialismus zerschellen. Und insofern ist es auch ganz richtig, dass unsere Zukunft, oder wenigstens ein Stück davon, auf dem Lande liegt.

Dies alles ist demnach in seiner ganzen Tragweite anzuerkennen. Trotzdem dürfen wir uns aber keinen Illusionen hingeben, denn dass die deutsche Landwirtschaft jemals in der Lage wäre, unseren heutigen und künftigen Bedarf an Lebensmitteln (im weitesten Sinne) zu normalen Preise selbst zu erzeugen, ist Utopie. Es mag dahingestellt bleiben, wieweit wir unseren Bedarf an Vieh und tierischen Produkten (Eier, Fette, Milch, Butter etc.) mit der Zeit im eigenen Lande decken können. Doch gerade wenn dies, wie zu hoffen ist, möglich sein wird, vergrössert sich unsere Abhängigkeit vom Ausland im Hinblick auf Getreide und Futtermittel um so mehr. Was wir zur Pflege und Förderung der deutschen Landwirtschaft auch tun, es bleibt dabei, dass wir in steigendem Masse auf das Ausland angewiesen sein werden. Hierzu kommt noch, dass wir auch in bezug auf mancherlei Genussmittel, die wir ungern entbehren (Kaffee, Kakao, Tee, Tabak, Südfrüchte) dem Auslande mit annähernd einer halben Milliarde tributpflichtig geworden sind.

Da entsteht nun die Frage: Womit bezahlen wir diese Güter? Wir besitzen kein nennenswertes Naturprodukt, das wir als Gegenwert hinausgeben könnten. Es bleibt uns deshalb nichts anderes übrig, als Industrieprodukte zu exportieren. Mit den Erzeugnissen unseres Gewerbefleisses müssen wir das bezahlen, was wir an Nahrungsmitteln aus dem Auslande erhalten. Hierbei ist ausserdem noch zu beachten, dass wir in Deutschland auch gezwungen sind, einen grossen Posten von Rohmaterialien zu beziehen – selbst für den blossen Inlandsbedarf (Baumwolle, Jute, Kupfer, Erze, Holz, Kautschuk, Petroleum etc.) – den wir ebenfalls mit Industrieerzeugnissen zu bezahlen haben.

Endlich ist noch zu bedenken, dass auch abgesehen von diesen Notwendigkeiten die Förderung industrieller Tätigkeit sich dringend empfiehlt. Die Betriebskosten des modernen Staates gehen ständig in die Höhe. Dies bedingt nicht nur der Aufwand für Heer und Marine, sondern in grösserem Umfange noch die im Staat unserer Tage immer mehr sich durchsetzende Kulturidee, will sagen: Der Teil des Budgets, der sich auf die soziale und kulturelle Tätigkeit des Staates und der Gemeinden bezieht, schnellt die Gesamtausgaben je länger desto mehr in rascher Steigerung empor. An sich zweifellos erfreulich und erwünscht. Voraussetzung hierfür ist aber, dass die Einzelwirtschaften der Steuersubjekte auch imstande sind, jene vergrösserten Betriebskosten der Gemeinwirtschaften aufzubringen. Die Durchführung der Kulturidee im Staat hat den Wohlstand seiner Bürger zur Voraussetzung. Dieser aber ist im hohen Grade abhängig von der Struktur des Wirtschaftslebens. Ein blosses Ackerbauvolk

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/272&oldid=- (Version vom 25.9.2021)