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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Willen eines Einzelnen. Der Feldherr, dem das Kriegsglück hold war, schaffte das Imperium, stampfte es aus dem Boden. Jede gewonnene Schlacht bedeutete Vergrösserung des Territoriums – Erweiterung der politischen Macht. Im Sinne der Weltherrschaftsideen jener Zeiten lag es, das Gebiet des eigenen Staates zu vergrössern, sich in den tatsächlichen Besitz des Landes anderer Völker zu setzen............Jahrtausende gellt durch die Welt der Schrei: Vae victis. Und, halten wir fest: Hinter dem allen der starke Wille eines Alexander, Cäsar, Augustus, eines Karl des Grossen, Gregor, eines Napoleon, kurz einer gewaltigen Persönlichkeit.

Wie ganz anders heute! Man versucht zwar auch bei uns, die Weltpolitik Deutschlands als den Willensausdruck Einzelner zu charakterisieren. So richtig es nun ist, dass Kaiser Wilhelm II. im Hinblick auf die aus der veränderten Weltstellung Deutschlands sich ergebenden Konsequenzen dem deutschen Volke ein Führer geworden ist, so falsch wäre es anderseits und bedeutete eine Verkennung der letzten Triebkräfte neudeutscher Geschichte, wenn eben diese veränderte Weltstellung selbst auf ihn zurückgeführt würde. Für sie sind vielmehr ganz andere Faktoren massgebend gewesen, Faktoren, die sich dem bestimmenden Einfluss eines einzelnen entziehen. Denn für Deutschland ist Weltpolitik im wesentlichen Wirtschaftspolitik. Teilhabe an den wirtschaftlichen Möglichkeiten auf dieser Erde, Spielraum und Ellenbogenfreiheit für wirtschaftliche Arbeit, wo immer sie sich lohnend erweist, das ist’s, was als letzte Triebkraft hinter allen unseren weltpolitischen Aufgaben steht.

Weltpolitik und äussere Wirtschaftspolitik lässt sich aber für Deutschland auch noch enger formulieren. Sind wir nämlich darauf angewiesen, die Produkte unseres Gewerbefleisses zu exportieren, um überhaupt die Grundlagen unseres Daseins zu finden, so darf gefordert werden, dass unsere auswärtige Politik in der Schaffung und Erhaltung von Bezugsgebieten für Rohstoffe und Absatzgebieten für unsere Erzeugnisse eine ihrer wesentlichsten Aufgaben erblickt. Solche Politik erfordert hohe Meisterschaft und darf sich messen mit der Kabinettspolitik alten Stils. Denn auch andere Völker, mögen im übrigen Nationalitäten- und Rassenfragen bei manchen unter ihnen in grösserem Masse wirksam sein, als bei uns, sehen sich den gleichen Aufgaben gegenüber, wie wir. Dies gilt besonders von den grossen Mächten, die es bereits zum Abschluss ihrer nationalen Konsolidation gebracht haben.

Denken wir an England, das sogar in viel grösserem Masse als Deutschland mit seiner ganzen wirtschaftlichen Existenz auf den Weltmarkt angewiesen ist. Für Grossbritannien bedeutet die Frage, den Weltmarkt besitzen oder verlieren: Sein oder Nichtsein. Und weil man in England fürchtet, dass das deutsche Volk ihm den Platz an der Sonne streitig machen könnte, eben deshalb jenes Problem, das heute und für absehbare Zeit alle Welt in Atem hält: England-Deutschland.

Oder blicken wir auf die Vereinigten Staaten von Amerika! Es liegt etwas Bewundernswertes in der zähen Energie, mit welcher diese Nation weltwirtschaftliche Expansion nicht nur auf dem amerikanischen Kontinent, über Mittelamerika hinaus bis in die Republiken des südlichen Kontinents, sondern vor allen Dingen auch in Europa und neuerdings in Ostasien mit erstaunlicher Wucht betreibt.

Oder gar Japan! Über Nacht in der Reihe der Grossmächte eingerückt, repräsentiert es ein Volk, das militärisch und politisch, nicht zuletzt auch kolonialpolitisch von zähem Willen und starkem Herrenbewusstsein beseelt ist. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass mit dem Ausgang des russisch-japanischen Krieges in der Geschichte Ostasiens eine neue Ära einsetzt und ein Teil jener Bedeutung, die das Mittelmeer durch Jahrtausende hindurch für die alte Welt hatte, einmal dem Stillen Ozean werden wird. Eine Entwicklung, die wir mit allen ihren Konsequenzen ständig im Auge zu behalten haben.

Von Japan gleitet der Blick zu Russland und dem Panslawismus, der bei der Rassenzähigkeit der slavischen Völker und der stillen Beharrlichkeit gerade russischer Weltpolitik trotz allem, was im letzten Jahrzehnt Osteuropa aufgerüttelt hat – oder vielleicht gerade deswegen – Schritt für Schritt seinen Zielen näher kommt.

Doch nicht allein diese Reiche treffen sich mit ihren wirtschaftlichen Interessen anf dem Weltmarkt. Österreichs Politik auf dem Balkan, Frankreichs Expansion in Nordafrika, Italiens Bestreben,

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/274&oldid=- (Version vom 25.9.2021)