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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Was heisst überhaupt produktive oder unproduktive Arbeit leisten? Der allgemeine Sprachgebrauch sowohl wie die wissenschaftliche Terminologie geben darauf keine klare, unzweideutige Antwort. Nehmen wir das Wort produktiv wörtlich, so ist es auf die Tätigkeit des Menschen überhaupt nicht anwendbar, denn Güter hervorzubringen ist diesem versagt. Auch bei der sog. materiellen Produktion, die man gewöhnlich im Auge hat, wenn von „produktiver“ Arbeit die Rede ist, ist das, was hervorgebracht wird, nicht der Stoff. „Die gesamte Arbeit aller menschlichen Wesen in der Welt ist nicht imstande, den allergeringsten Teil eines Stoffes hervorzubringen.“ (John Stuart Mill). „Was wir hervorbringen oder hervorzubringen wünschen, ist immer nur eine Nützlichkeit. Arbeit schafft keine Gegenstände, sondern Nützlichkeiten.“ (Say) Wenn wir diesen sehr richtigen Gedanken etwas schärfer formulieren wollen, müssen wir sagen: diejenige Arbeit ist produktiv, die materiellen Gegenständen Nützlichkeit (Brauchbarkeit) gibt. Dieser als unmittelbar produktiv zu bezeichnenden Arbeit wäre dann die mittelbar produktive gegenüber zu stellen, die nicht unmittelbar auf die Nutzbarmachung materieller Gegenstände gerichtet ist, sondern diese nur indirekt fördert und beeinflusst. Als unproduktive Arbeit wäre dann jene zu bezeichnen, die weder mittelbar noch unmittelbar auf die Nutzbarmachung materieller Gegenstände einen Einfluss übt.

Dass von diesem Standpunkt landwirtschaftliche und gewerbliche Arbeit (i. e. S.) produktiv ist, bedarf keiner Erörterung. Wie aber steht es mit dem Handel? Der Kürze halber ein Beispiel: Der auf der Malayischen Halbinsel gewonnene Kautschuk ist auf der Plantage völlig ohne Nützlichkeit, da er an Ort und Stelle niemandes Bedürfnisse befriedigt. Gelangt er aber durch Vermittlung des Kaufmanns auf den europäischen Kontinent, so sind ihm dadurch Nützlichkeiten ausgelöst worden, die zwar in letzter Linie auf den Pflanzer zurückzuführen sind, ohne den Kaufmann (und den Reeder) aber nicht hätten in die Erscheinung treten können. Die an sich mögliche Nützlichkeit eines Gegenstandes kommt erst zur Geltung, wenn sie dem Menschen dienstbar gemacht wird, ein Vorgang, der ohne den Handel (und das ihm verwandte Transportgewerbe) vielfach überhaupt nicht denkbar ist. Wir sehen: es braucht die Beeinflussung der Nützlichkeit eines Gegenstandes nicht immer in formverändernder Tätigkeit zu bestehen, sondern ebenso wichtig ist, dass er überhaupt zugängig gemacht wird. Erst wenn die Güter dort sind, wo sie konsumiert werden, haben sie konkreten Gebrauchswert. Diese Funktion des Schiebens der Güter an den Ort der Nachfrage, den Ausgleich der Disproportion zwischen Angebot und Nachfrage bewirkt der Handel, der deshalb in eminentem Sinne als produktiv bezeichnet werden muss. Mit Recht weist Lexis darauf hin, dass niemand dem Techniker, der die Förderung der Steinkohlen aus der Tiefe an die Oberfläche leitet, die produktive Tätigkeit absprechen werde. „Aber nicht minder produktiv ist auch die Tätigkeit des Kaufmanns, der eine Fabrik ausfindig macht, in der die Kohlen nützliche Verwendung finden und ihre Versendung dorthin veranlasst.“ Da durch diese Tätigkeit des Handels die Güter vielfach erst einen Gebrauchswert und damit einen Tauschwert erhalten oder dieser mindestens erhöht wird, rechtfertigt sich selbstverständlich auch ein Anteil an dieser Wertsteigerung für den Händler.

Für den Produzenten ist der Handel in doppelter Beziehung von Bedeutung. Einmal beschafft er ihm die Rohmaterialien und zum anderen setzt er das fertige Produkt ab. Innerhalb gewisser Grenzen liegt freilich auch die Möglichkeit vor, dass der Produzent in beiden Fällen den Handel ausschliesst und sich des direkten Verkehrs bedient. Grosse Unternehmungen z. B. beziehen ihre Kohlen in der Regel unmittelbar von der Zeche, wie anderseits auch die schwere Industrie ihre Erzeugnisse (Halbzeug etc.) nicht selten direkt der weiterverarbeitenden Industrie liefert. Aber schon hier ergeben sich oft Schwierigkeiten, vor allem dann, wenn es sich um den Verkehr mit dem Ausland handelt; Jute, Baumwolle, Kupfererze, Öle, Tabak und viele andere Welthandelsartikel lassen sich ohne Inanspruchnahme des Handels und der erst vom Handel organisierten Produktenbörse zumeist überhaupt nicht beziehen. Und noch wichtiger erweist sich der Handel beim Absatz der fertigen Erzeugnisse. Der Fabrikant produziert in der Regel nur einen Gegenstand oder doch verwandte Gegenstände, für die sich in den meisten Orten ein eigenes Detailgeschäft als unrentabel erweisen würde. Der Detaillist, der in seinem Laden die Erzeugnisse einer ganzen Anzahl von Fabrikanten feilbietet, gibt ihm erst die Möglichkeit des Absatzes über das ganze Land. Nur in grossen Städten ist den Fabrikanten die Aufmachung einer eigenen Verkaufsstelle möglich,

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/328&oldid=- (Version vom 8.10.2021)