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zu verbleiben. Bei der beliebigen Ausdehnungsfähigkeit der Industrie kann jeder Fabrikant seinen Konkurrenten zwingen, sein Geschäft aufzugeben oder ihm in Qualität und Preis des Fabrikats gleich zu bleiben, in der Landwirtschaft kann der indolenteste Bauer unbeeinflusst neben dem intelligentesten Gutsbesitzer bestehen, wenn er nur notdürftig seinen Lebensunterhalt gewinnt, da der Gutsbesitzer seinen Betrieb, der an die Fläche gebunden ist, nicht so vergrössern kann, um den Nachbarn den Markt zu nehmen. Hierin liegt ja ein gewisser Vorzug der Landwirtschaft vor dem gewerblichen Leben, es hat für die gesamte Nation und ihre Gesundheit immerhin eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, wenn ein Teil der Bevölkerung eine ruhigere Existenz hat als sie den meisten im scharfen Konkurrenzkampfe stehenden Gewerbetreibenden möglich ist, allein die Gesamtproduktion der Landwirtschaft wird doch recht ungünstig beeinflusst, wenn in einem Lande wie Deutschland, welches wesentlich doch landwirtschaftlich betrachtet ein Bauernland ist, die alte Redensart noch zuviel Geltung hat: Wenn der Bauer nicht muss, regt er weder Hand noch Fuss. Die geringere Berücksichtigung der Landwirtschaft mag ihren Grund darin gehabt haben, dass man in den Zeiten, in welchen Deutschland noch ganz vorwiegend Agrarstaat war, eine Förderung der Industrie für notwendiger erachtete, weil man von derselben eine raschere Vermehrung des Nationalwohlstandes erwartete, für die Landwirtschaft glaubte man genug zu tun, wenn man sie von allen Fesseln persönlicher und dinglicher Natur befreite und es dem erleuchteten Selbstinteresse überliess, für sich zu sorgen. Wer wollte auch die grossartigen Fortschritte verkennen, welche die Aufhebung der Leibeigenschaft und der Erbuntertänigkeit, die Regelung der gutsherrlich bäuerlichen Verhältnisse, die Ablösung der Reallasten und Servitute, die Zusammenlegung der Grundstücke und die Aufteilung der Gemeinheiten und ähnliche Massregeln herbeigeführt haben; es sind aber doch gelinde Zweifel berechtigt ob man nicht im Vertrauen auf die eigene Einsicht der so von vielen Fesseln befreiten Landwirte oder aus nicht durchweg richtigen wirtschaftlichen Anschauungen stellenweise zu weit gegangen oder andererseits erhebliche Unterlassungen begangen hat. Wenn z. B. die berühmte Preussische Agrargesetzgebung bei der Aufhebung aller Verkaufs- und Verschuldungsbeschränkungen davon ausging, dass nun jedermann diese Freiheit benutzen werde, um seinen Besitz so durch Abverkauf einzelner Parzellen schuldenfrei zu stellen, so ist dieser fromme Glaube sehr getäuscht worden, ebenso wie die Freigebung der Bewirtschaftung des Waldes vielfach zu schlimmen Waldverwüstungen geführt hat. Desgl. hat die Aufteilung der gemeinen Weiden, die diktiert wurde von der Ansicht, dass nur die Stallfütterung wegen der vermehrten Mistproduktion rationell sei, zwar die mit ihr verbundene an und für sich sehr nützliche Zusammenlegung der Grundstücke sehr erleichtert aber der Viehzucht ganz erheblichen Schaden zugefügt und die Viehhaltung der kleinen Leute fast unmöglich gemacht, zumal da, wo auch noch alle sonstigen Weideberechtigungen in der Forst etc. aufgehoben wurden. Ein ganz besonderer Übelstand, der sich gerade in unserer Zeit fühlbar macht, ist ausserdem noch dadurch entstanden dass man bei der Regulierung der gutsherrlich bäuerlichen Verhältnisse wegen des Widerstandes des Grossgrundbesitzes die Instleute besitzlos liess und damit den Grund zu den heutigen unerfreulichen Verhältnissen der besitzlosen Arbeiter und damit ihrer Abwanderung in die Industrie legte. Es ist auch zweifelhaft ob man bei der besonderen Eigentümlichkeit des Grundbesitzes richtig gehandelt hat ihn im allgemeinen wie das mobile Kapital und den städtischen Besitz in bezug auf Verschuldung und Vererbung zu behandeln. Wenn man glaubte, die Freiheit werde schon allein genügen um gesunde Verhältnisse herbeizuführen, die minder tüchtigen Elemente auszumerzen und die Güter den Weg zum besten Wirt finden zu lassen, so übersah man, dass diese Wirkung zwar schliesslich eintreten werde, aber doch sehr langer Zeit bedürfe und inzwischen eine für die Gesamtproduktion sehr unheilvolle Devastation der in den Händen untüchtiger oder von Schulden erdrückter Wirte befindlichen Wirtschaften stattfinden müsse. Der Gedanke, dass der Landwirt seine wichtige Rolle im Staatsleben eigentlich nur vollständig ausfüllen könne, wenn er als freier Mann auf freier Scholle sitze, ist allmählich aus dem Bewusstsein der Mehrheit verschwunden, Schulden zu haben oder, wie man das schöner ausdrückt, die Segnungen der Kreditbenutzung sich zugute kommen zu lassen, gelten als der natürliche Zustand, der den Grundbesitz nur als Kreditbasis auffasst. Die Landschaften die ursprünglich Entschuldungszwecken dienen sollten, haben durch Erleichterung der

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 359. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/375&oldid=- (Version vom 16.10.2021)