Seite:Handbuch der Politik Band 2.pdf/38

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

namentlich wirtschaftlichem Gebiet, indem er sich zu unhistorischem, unbesonnen fortstürmendem Einreissen alter Einrichtungen und Schutzwehren fortreissen liess. Der Erfolg war, dass auch die politisch bisher liberal denkenden gläubigen Katholiken, welche zugleich auf staatlichem Gebiet am historisch Gewordenen, soweit es noch gut war, festhalten wollten, in ihm sich nicht mehr wohl fühlten. Bismarck aber, welcher bis 1866 in schärfster Kampfstellung gegen ihn gestanden hatte, stützte sich jetzt auf ihn und brachte ihn zur Herrschaft.

Dieser Reaktion gegen den gesamten Liberalismus in seiner damaligen konkreten Gestalt, sowohl nach dessen kirchenpolitischer wie nach dessen staatspolitischer Seite hin, entsprang der Gedanke einer neuen Partei. Seit dem Frühjahr 1870 wurde er in Berlin unter den alten Führern der Katholischen Fraktion erwogen. Im April begannen ernsthafte, beharrlich fortgeführte Vorarbeiten. Als der französische Krieg von 1870/71 ausbrach, fand er unter den Katholiken dieselbe patriotische Begeisterung wie unter den Protestanten. Auch das neue deutsche Reich wurde von den preussischen Katholiken durchweg mit Jubel begrüsst, während allerdings in Bayern aus altüberlieferten partikularistischen Gefühlen sich Widerstand geltend machte, zumal die schroff zentralisierende Tendenz des Liberalismus verstimmend wirkte. Doch konnte das alles die Gründung der neuen Partei nicht mehr aufhalten, um so weniger, als gleichzeitig der Liberalismus seine katholikenfeindliche Haltung rasch verstärkte.

So kam es zur Gründung des heutigen Zentrums. Liberale und konservativ fühlende Katholiken reichten sich bei ihr die Hände. Die Spaltung, welche die erste Zeit der Katholischen Fraktion gebracht hatte, wurde wieder überbrückt. Man wurde einig, die Neugründung jetzt als eine rein politische Fraktion zu gestalten ohne irgendwelche konfessionelle Beschränkung. Die ersten veröffentlichten Programme der neuen Partei (Aufruf Peter Reichenspergers in der Kölnischen Volkszeitung vom 11. Juni 1870, Essener Programm vom 29. Juni, Soester Programm vom 28. Oktober) stellten sich zunächst fest auf den Boden der bestehenden verfassungsmässigen Zustände, ebenso später auf den Boden des neugegründeten Reiches. Aus dem kirchenpolitischen Bestande der früheren Katholischen Fraktion entnahmen sie die Forderungen des Schutzes der Rechtsstellung der katholischen Kirche, der christlichen Ehe, der konfessionellen Schule und der Durchführung der staatsrechtlichen Parität der anerkannten Religionsgesellschaften. Aus den früheren liberalen Forderungen der Katholischen Fraktion übernahmen sie die Forderung der Beschränkung der Staatsausgaben, damit der Beschränkung der Steuern und Lasten und zugleich einer gleichmässigen und gerechten Verteilung derselben, ferner die Forderung der Dezentralisation der Staatsverwaltung auf Grundlage der Selbständigkeit der Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz, und endlich die Forderung der Beschränkung der damals dreijährigen aktiven Dienstzeit im Heere. Daneben zeigen diese Programme auch echt konservative Züge, was die allgemeine Richtung der Politik anlangt. Aus der alten, im Kerne aufgegebenen grossdeutschen Stimmung, zugleich aus gesunden realpolitischen Erwägungen entstammt die Forderung, den Grundcharakter des neuen Reiches als eines Bundesstaates zu bewahren und die zentralisierende Tendenz des Liberalismus abzuwehren. Neu hinzugefügt wurden wirtschafts- und sozialpolitische Forderungen: Ausgleichung der Interessen von Kapital und Grundbesitz, sowie von Kapital und Grundbesitz einerseits und der Arbeit andererseits, Erhaltung und Forderung eines kräftigen Mittelstandes in einem selbständigen Bürger- und Bauernstand, Freiheit für alle den gesetzlichen Boden nicht verlassenden Bemühungen zur Lösung der sozialen Frage, gesetzliche Beseitigung solcher Übelstände, welche den Arbeiter mit moralischem oder körperlichem Ruin bedrohen. Die späteren Programme der Fraktionen wurden kürzer und allgemeiner gefasst, was sich in der Folge als für eine freie Entfaltung der politischen Praxis in allen Einzelfragen höchst günstig erwies. Ein konfessioneller Charakter wurde ebenso entschieden abgelehnt, wie eine konfessionelle Bezeichnung. Die Forderung der Freiheit und Selbständigkeit „der Kirche“ im Programm der preussischen Fraktion wurde im Programm der Reichsfraktion bereits ersetzt durch die Forderung des Schutzes der Rechte „der Religionsgesellschaften“. Die Zentrumspartei sollte sein und wurde auch eine allgemeine politische Staats- und Reichspartei, welche Anhängern aller religiösen Bekenntnisse offen stand, soweit sie nur ihre politischen Grundsätze annahmen.

Die Zentrumspartei war demnach weder als Oppositionspartei, noch etwa als Feindseligkeit gegen das neue deutsche Reich, noch gar als Gegensätzlichkeit zum Protestantismus gedacht. Sie war vielmehr gedacht als eine Partei positiver politischer Arbeit auf Grund eines neuen, klaren Programmes,

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/38&oldid=- (Version vom 31.8.2021)