Seite:Handbuch der Politik Band 2.pdf/402

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

der Kampf um das Hinterland, die bisherige Sonderstellung der Hafenplätze musste einer engeren Angliederung an das eigene Land weichen. Der sich daraus ergebende Dezentralisierungsprozess musste Hamburg und Bremen günstiger sein als London, dem Knotenpunkt der grossen Ozeanstrassen.

Die Eisenbahn hat zwar England erfunden, Deutschland aber erkannte zuerst ihre volkswirtschaftliche Bedeutung und wurde damit zur hohen Schule der Eisenbahnpolitik. Während England vergeblich den Grundsatz der freien Konkurrenz zur Geltung bringen wollte, während Frankreich, Österreich und andere Länder zu Ausbeutungsobjekten fremder Kapitalisten wurden, hat es Deutschland verstanden, den staatlichen Einfluss so zu lenken, dass sich der private Unternehmungsgeist im Eisenbahnbau betätigt, aber der Allgemeinheit dienstbar bleibt. Heute steht Deutschland mit einem Eisenbahnnetz von 59.000 km an der Spitze aller europäischen Staaten. Der Abstand wäre noch grösser, wenn sich ein einwandfreier Vergleich der Verkehrsleistungen herstellen liesse, wozu aber die statistischen Unterlagen nicht ausreichen.

Das Bild wäre dabei einseitig, wenn nicht in Rechnung gezogen würde, dass Deutschland unter allen europäischen Weststaaten das reichste, bestverteilte und leistungsfähigste Wasserstrassennetz besitzt. Die Ziffern über die Ausdehnung des Netzes geben nur einen schwachen Anhaltspunkt, denn von entscheidendem Einfluss ist die Art und Dauer der Benutzbarkeit. Es weisen an schiffbaren Wasserstrassen auf (nach Viktor Kurs im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“):

natürliche künstliche zusammen
in km
Deutschland 8.667 6.602 15.269
Frankreich 4.817 8.918 13.735
Grossbritannien und Irland 4.339 5.137 9.476
Norwegen 6.243 (Fjords) 713 6.956
Schweden 6.269 471 6.740
Niederlande 919 3.561 4.480

Nach amtlichen Erhebungen haben sich die Verkehrsleistungen Deutschlands auf den Eisenbahnen und den Wasserstrassen in folgender Weise gesteigert:

Länge in km Verkehrsleistung in Mill. Tonnenkilometern
Jahr der Eisenbahnen der grösseren
Wasserstrassen
bei Eisenbahnen bei Wasserstrassen
1875 26.500 10.000 10.980 2.900
1905 54.400 10.000 44.600 (Zuwachs 309%) 15.000 (Zuwachs 417%)

Einen Begriff von dem Verhältnis der Verkehrsmittel im Binnenlande und zur See erhält man, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die deutschen Eisenbahnen in ihren Güterwagen über einen Laderaum von 7 Mill. Tonnen, die Binnenschiffe über einen solchen von 6 Mill. und die Seeschiffe über einen solchen von 2.8 Mill. Tonnen verfügen, wobei aber zu berücksichtigen ist, dass der Laderaum der Binnenverkehrsmittel viel intensiver ausgenutzt wird als jener der Seeschiffahrt.

Die Verkehrsmittel haben aber die Industrie nicht geschaffen. Wenn Russland sein ungeheures natürliches Wasserstrassennetz von 54.872 km durch künstliche Kanäle noch erweitern wollte, so würde es in vielen Fällen dadurch nicht reicher, eher ärmer. Der Drang zu einer Bedürfnissteigerung muss schon vorhanden sein, und den erzeugt nur die Hebung des gesamten Kulturniveaus. Da treffen wir auf eine günstige Wirkung der alten vielbespöttelten und vielbeklagten Kleinstaaterei in Deutschland. Der absolutistische Merkantilismus führte fast überall zu einer Überernährung der Reichsmetropole auf Kosten der übrigen Teile, die jeweils höchste Kulturstufe erklomm nur eine kleine Schicht der Bevölkerung, die Provinz kam umso langsamer nach, je weiter sie entfernt war. In Deutschland war durch den Wettbewerb der verschiedenen Staaten das Kulturniveau ausgeglichen worden, es gab zahlreiche geistige Mittelpunkte und Bildung wurde nicht nur durch die Schulen, sondern auch durch die rege Vereins- und Genossenschafts-Tätigkeit in die breitesten Schichten der Bevölkerung getragen. Infolge dieser beispiellosen kulturellen Homogenität war eine Unsumme von Bedürfnissen latent vorhanden, welche die Verkehrsmittel nur zu wecken brauchten.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/402&oldid=- (Version vom 29.10.2021)