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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

53,7 und die Vereinigten Staaten von Amerika 28 Mill. Spindeln zählten. Ein verlässlicheres Bild bietet uns aber die Entwicklung des Rohstoffverbrauches, der sich in beiden Staaten leicht kontrollieren lässt, weil die rohe Baumwolle nur im Wege des Aussenhandels zur Verwendung gelangen kann. In Deutschland sehen wir ein fast ununterbrochenes stetiges Steigen des Baumwollverbrauches auf den Kopf der Bevölkerung von 0,34 kg durchschnittlich in den Jahren 1836–40 auf 7 kg in der Gegenwart. In England stellte sich dieser Verbrauch schon im Durchschnitt der Jahre 1846–50 auf 8 kg, erreichte aber in den Jahren 1886–90 mit 18,97 kg den Höhepunkt und ist seither im Fallen (1909: 16 kg). Die deutsche Industrie ist heute in ihrer Leistungsfähigkeit überlegen, denn mit nicht einmal ¼ der englischen Spindeln verbraucht sie mehr als die Hälfte des englischen Jahresverbrauches in roher Baumwolle. Nach den amtlichen Produktionserhebungen für das Jahr 1907 wurden in Deutschland von 9,5 Mill. Spindeln 407,5 Mill. kg roher Baumwolle zu 358,9 Mill. kg eindrähtigen Baumwollgarnen im Gesamtwerte von 644,8 Mill. Mark verarbeitet.

Von entscheidender Bedeutung für die Baumwollindustrie dieser Länder ist der Auslandsmarkt. Die handelsstatistischen Ziffern ergeben, dass die Ausfuhr Englands in Baumwollwaren stagniert, nämlich periodenweise zurückgeht, um sich dann wieder ein wenig zu erholen. Deutschland war aber imstande, seine Ausfuhr in Baumwollwaren von 96,4 Mill. im Jahre 1880 auf 432 Mill. Mark im Jahre 1907 zu steigern; die folgenden Jahre zeigten zwar eine Abschwächung, doch ändern solche den Welthandel überhaupt treffende Konjunkturschwankungen nichts an der Tatsache, dass sich Deutschland auf Kosten Englands die Auslandsmärkte erobert. Das ist zum grossen Teil ein Erfolg der in fremden Zeitschriften immer wieder besprochenen und angegriffenen deutschen Vertriebsmethode. Das alte englische Geschäftsprinzip basiert auf der Anschauung, der Fabrikant habe sich nur um die Erzeugung zu kümmern und den Verkauf der Ware dem Kommissionär zu überlassen, der sich nahezu vor den Toren der Fabrik niederlässt. Der fremde Grosshändler musste nach England kommen und nehmen, was ihm der Kommissionär gab; vom Fabrikanten bekam er überhaupt nichts. Das Prinzip war gut, solange im technischen Betriebe eine Erfindung die andere jagte und überdies alle Welt in England kaufen musste, weil dieses Land das Industrie-Monopol besass. Heute, in der Zeit schärfster Konkurrenz, läuft der Fabrikant dem Kunden nach, nicht umgekehrt. Der Kommissionär im Lande wird durch den im Ausland tätigen Reisenden ersetzt. Baumwollespinnen ist keine Frage mehr des technischen Könnens, sondern des Kapitals; die Kunst besteht nicht darin, die Garne herzustellen, sondern zu verkaufen. So hängt der Absatz aller industriellen Massenartikel nicht von der technischen, sondern von der kommerziellen Eignung des Unternehmers ab. Die Deutschen als die jüngeren Konkurrenten auf dem Weltmarkt mussten natürlich nach einem Mittel suchen, die älteren auszustechen. Sie haben es auch gefunden.

Während die Baumwollindustrie ein Massstab für die Expansion noch aussen ist, kann die Eisenindustrie als Gradmesser für die Intensität des inneren Wirtschaftslebens gelten. Die ungeheure Zunahme der Fabriksindustrie, die steigende Verwendung von Maschinen selbst im Kleingewerbe, der Übergang der Landwirtschaft zu einer intensiven Arbeit mit eisernen Geräten und Maschinen, die rasche Ausbreitung des Eisenbahnnetzes, der Ersatz des Holzes durch Eisen und Stahl beim Schiffbau, die durch das Wachstum der Städte reger gewordene Bautätigkeit, alles das hat den Bedarf nach Eisen gewaltig erhöht. Der Verbrauch von Roheisen, berechnet auf den Kopf der Bevölkerung, ist von 26,5 kg im Durchschnitt der Jahre 1861–65 auf 208,9 kg im Jahre 1907 gestiegen; seither trat infolge des Konjunktur-Rückganges eine Abschwächung ein, aber er ist in Deutschland heute schon grösser als in England und hält sich auf ungefähr gleicher Höhe mit jenem der Vereinigten Staaten von Amerika und Belgien. Dabei ist nur jener Verbrauch angegeben, der sich aus den Ziffern für die eigene Produktion, sowie für die Einfuhr und Ausfuhr in Roheisen ergibt. Wollte man den gesamten Eisenkonsum eines Landes feststellen, so müsste man auch die Einfuhr und Ausfuhr von Eisenwaren und Maschinen aller Art mit der Menge des darin verarbeiteten Eisens einstellen, was jedoch nur im Wege ziemlich vager Schätzungen möglich ist. Wollte man aber einen Rückschluss auf die industrielle Produktivität ziehen, so müsste man den sehr verschiedenartigen Fabrikationswert hinzuschlagen, welchen das inländische oder fremde Roheisen durch die Inlandsindustrie erreicht, denn es ist wirtschaftlich nicht gleichgültig, ob das Material in Form von Schienen, Blechen oder Maschinen zum letzten Verbraucher oder zum Export

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 388. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/404&oldid=- (Version vom 29.10.2021)