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ausserordentlich günstige Frachtlage geschaffen. Übrigens baut sich die Eisenindustrie in immer höherem Masse auf Erzen auf, die weither vom Auslande kommen, aus Spanien, Algier, Italien, Griechenland, ja es gelangen bereits Erze aus Kanada, Südafrika und China zur Verarbeitung in Europa. Aber nicht nur die von Natur aus billige Wasserfracht wurde überwunden, sondern auch die Landfracht, denn die schwedischen Eisenerze verbreiten sich über den ganzen Kontinent. Auch hier zeigt sich, wenn auch spät, so doch unaufhaltsam, der Sieg des Menschen über die Natur. England hatte bessere Kohlen und Erze, Deutschland aber eine bessere Wirtschaftspolitik, und die entschied.

Die deutsche Eisenindustrie bietet uns auch das Schauspiel jenes ungeheuren Konzentrationsprozesses, der manche der bisherigen nationalökonomischen Lehren auf den Kopf zu stellen droht. Fast die gesamte Stahlerzeugung des Deutschen Reiches wird von 31 Firmen betrieben, die im Stahlwerksverband in Düsseldorf ihre Produktions- und Absatzverhältnisse einheitlich geregelt haben und sich noch immer enger zusammenschliessen. Dabei gehören die grössten Firmen des Stahlwerksverbandes gleichzeitig dem Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikat in Essen an, dem fast sämtliche Zechen des Ober-Bergamtsbezirks Dortmund mit einem Anteil von 54% an der gesamten deutschen Kohlenproduktion angehören. Die Firmen sind grosse, mit Banken eng liierte Aktiengesellschaften. Während zur Zeit der Entstehung der Fabriksindustrie der Fortschritt in der technischen Arbeitsteilung des Betriebes und in der Spezialisierung der Betriebe untereinander für die einzelnen Fabrikate lag, ist das Schlagwort der modernen Zeit die Arbeitsvereinigung, welche die spezialisierten Betriebe wieder zu einer höheren Einheit zusammenfasst, weil sich auf diese Weise verschiedene technische und kommerzielle Vorteile erzielen lassen. Das Stahlwerk erzeugt nicht bloss einfache Walzwaren, wie Eisenbahnschienen und Träger, sondern errichtet auch Walzwerke für Stabeisen, Bleche usw., baut eigene Fabriken für Eisenkonstruktionen und Maschinen, Eisenbahnwaggons und Lokomotiven. Der sogenannte gemischte Betrieb dehnt sich aber im Produktionsprozess nicht bloss nach vorwärts, sondern auch nach rückwärts aus. Das Stahlwerk gliedert sich auch ein Hochofenwerk an, kauft Kohlenbergwerke und Erzgruben. Den Typus eines solchen Unternehmens stellen die in eine Aktiengesellschaft verwandelten Werke der Firma Friedrich Krupp in Essen dar. Die Werke umfassen die Gussstahlfabrik in Essen, die mittelrheinischen Hüttenwerke, die Friedrich-Alfred-Hütte in Rheinhausen-Friemersheim, das Stahlwerk Annen in Westfalen, das Grusonwerk in Magdeburg-Buckau, die Germaniawerft in Kiel-Gaarden, mehrere Kohlenzechen, zahlreiche Eisenerzgruben in Deutschland und im Beteiligungswege in Nordspanien, sowie eine Reederei in Rotterdam mit eigenen Seedampfern für den Erztransport. Die Gussstahlfabrik allein verbraucht fast so viel Wasser wie die Stadt Bochum und fast so viel Gas wie die Stadt Elberfeld. Am 1. Januar 1912 beschäftigten die Krupp’schen Werke einschliesslich der Beamten im ganzen 69 950 Personen. Ein solcher moderner Betrieb ist also zu einer Stadt für sich geworden.

Von entscheidender Bedeutung für die industrielle Entfaltung eines Landes ist noch immer die Kohle. Deutschland ist, wie neuere Untersuchungen ergeben haben, bezüglich der Kohlenvorräte das reichste Land Europas, nur die Vereinigten Staaten von Amerika und China verfügen über weit grössere Kohlenfelder. In der Weltproduktion besass aber England bis fast ans Ende des 19. Jahrhunderts eine beherrschende Stellung, die es seither an die Vereinigten Staaten von Amerika abtreten musste. An dritter Stelle folgt Deutschland, doch haben sich die Anteile dieser drei Staaten ziemlich ausgeglichen, wie folgende Übersicht zeigt:

Welt-Produktion in Stein- und Braunkohle
in Mill. t (1000 kg)
1860 1900 1908
Förderung aller Staaten 137.5 771.1 1067.0
Anteil der Vereinigt. Staaten von Amerika 15.2 = 11.1% 244.6 = 31.7% 376.9 = 35.3%
Anteil Englands 81.3 = 59.1% 228.8 = 29.6% 265.4 = 24.9%
Anteil Deutschlands 16.7 = 12.2% 149.8 = 19.4% 215.3 = 20.1%

Dabei ist zu berücksichtigen, dass England den vierten Teil seiner Produktion ins Ausland ausführt, während die Vereinigten Staaten ihre Produktion fast zur Gänze selbst aufbrauchen und

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/406&oldid=- (Version vom 29.10.2021)