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unbestritten die erste der Welt. Die vergleichenden Zahlen über Arbeiter und Motorkräfte gestatten hier keinen sicheren Rückschluss auf den Aufschwung, weil die chemische Industrie mehr als jede andere die mechanische Arbeit entbehrlich macht und umso grössere Ansprüche an die geistige Arbeit stellt. In der chemischen Industrie kommt 1 Beamter auf 6 bis 7 Arbeiter, in der Spinnerei dagegen auf 15 bis 18 Arbeiter. Die chemische Grossindustrie ist ein Kind der neuesten Zeit, denn auch für sie war wie für die Maschinenindustrie eine allgemeine industrielle Entwicklung die unbedingte Voraussetzung. Heute liefert Deutschland mehr als ein Viertel der gesamten Produktion von Schwefelsäure in der Welt, denn es erzeugte im Jahre 1910 aus Erzen allein 1,5 Mill. Tonnen im Werte von 41,5 Mill. Mark. An Kalisalzen wurden im Jahre 1910 8,2 Mill. Tonnen im Werte von 91,2 Mill. Mark gewonnen, welche zum grössten Teil der deutschen Landwirtschaft als Düngemittel zugeführt, zum Teil durch Umlösen weiter verarbeitet werden. Unter Berücksichtigung des eingeführten Chilesalpeters, der bei der Entphosphorung des Eisens sich ergebenden Thomasschlacke, sowie anderer Phosphate hat man berechnet, dass die deutsche Landwirtschaft für etwa 250 Mill. Mark künstlicher Düngemittel von der Industrie bezieht. In der Farbstofferzeugung wurde die einst massgebende englische und französische Industrie von der deutschen überholt. Die Krappkulturen Frankreichs wurden von dem künstlichen Alizarin verdrängt und während der ostindische Indigo im 17. Jahrhunderte die Waidkulturen in Deutschland vernichtete, bedrängt jetzt der synthetische Indigo die Indigopflanzungen Britischindiens. In den künstlichen organischen Farbstoffen hat sich aber Deutschland auf die erste Stufe geschwungen und exportierte im Jahre 1911 für 250,8 Mill. Mark Farben und Farbwaren, wovon etwa 46% auf Anilin und andere Teerfarbstoffe und 17% auf synthetischen Indigo entfallen.

Eine besondere Erwähnung verdient die Hausindustrie, welche durch den Anprall der modernen Fabriksindustrie eine durchgreifende Veränderung erfuhr, aber nicht immer in dem erwarteten Sinne. Die alten traditionellen Hausindustrien, denen in bestimmten Gegenden besonders gutes Rohmaterial (Holz, Flachs, Eisen, Ton) und die ererbte Arbeitsgeschicklichkeit der Bewohner zugute kam und die namentlich der landwirtschaftlichen Bevölkerung während der langen Wintermonate lohnende Nebenbeschäftigung boten, schienen nicht lebensfähig zu sein. Die städtischen Verlagsindustrien, unter denen namenlich die Kleider- und Wäschekonfektion riesenhaft emporwuchs, schienen dagegen wegen übermässiger Ausnutzung der Arbeitskraft und steter Lohndrückerei vom sozialpolitischen Gesichtspunkte aus nicht unbedenklich zu sein, zumal sie sich der modernen Arbeiterschutzgesetzgebung mit Erfolg entziehen konnten. In den meisten Ländern hat sich die öffentliche Fürsorge dahin gerichtet, die lokal-traditionellen Hausindustrien durch Belehrung in technischer und kaufmännischer Beziehung, durch materielle Unterstützung und durch Propaganda für die hausindustriellen Erzeugnisse vor dem Niedergange zu retten, doch erreichte man gewöhnlich nichts anderes als eine Perpetuierung der alten Hungerlöhne. In Deutschland hat aber der allgemeine Aufschwung der Hausindustrie mehr genützt als ihr kleingewerbliche Förderung oder sozialpolitische Fürsorge jemals nützen könnte. Freilich, jene Zweige konnten sich auch nicht halten, in denen die Fabriksindustrie bessere Produktionsmittel besass, aber gegen solche wirtschaftliche Umwälzungen ist auch jede Gesetzgebung und Verwaltung ohnmächtig. So hat die Handweberei dem mechanischen Webstuhl weichen müssen, so konnte sich die Kleineisenindustrie, die Waffen- und Messerwarenerzeugung in Solingen, die Werkzeugindustrie in Remscheid und Hagen i. W., die Nadelerzeugung in Iserlohn, die Nagelerzeugung in Schmalkalden, gegen die Fabrik nicht halten, weil die Handarbeit zweckmässigerweise durch Maschinenarbeit ersetzt wurde; so ist auch die einst blühende Uhrenindustrie im Schwarzwald bis auf wenige Reste im Grossbetrieb aufgegangen. Die städtische Verlagsindustrie aber lernte von der Fabriksindustrie die Organisation der Arbeiter-Interessen und erreichte damit mehr, als ihr staatliche Fürsorge hätte jemals verschaffen können. Diejenigen Zweige der Hausindustrie, in denen der maschinelle Betrieb nicht möglich war, profitierten aber von den regen Handelsbeziehungen, welche sich die Grossindustrie geschaffen hatte und arbeiteten besonders für den Export. Die Sonneberger Spielwarenindustrie z. B. bringt etwa 80% ihrer Gesamterzeugung über die Grenzen des Reiches; die Ausfuhr Deutschlands in Spielwaren ist von 38,8 Mill. Mark im Jahre 1898 bis auf 90,1 Mill. im Jahre 1911 gestiegen. Auf diese Weise lassen sich die scheinbar widersprechenden

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/411&oldid=- (Version vom 30.10.2021)