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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die amtliche Statistik zu den Selbständigen auch leitende Beamte, wie Direktoren, Administratoren zählt, die doch nicht selbst Unternehmer, sondern Angestellte von Unternehmungen sind; mit dieser Korrektur würde sich das Verhältnis noch krasser stellen. Die dargelegte Veränderung ist aber nicht die beklagenswerte Erscheinung, für die man sie im Anfang wohl hielt. Dem Handwerker des Mittelalters musste die Selbständigkeit das naturgemässe Ziel des Ehrgeizes sein, weil er nur als Meister seine volle Tüchtigkeit entfalten konnte, heute ist sie aber mehr eine Illusion als ein Vorteil. Mit der Verschärfung der Konkurrenz geht die Macht vom Produzenten auf den Konsumenten über, und je kleiner der Unternehmer ist, desto drückender wird die Abhängigkeit. Der Arbeiter eines Grossbetriebes erfreut sich tatsächlich einer viel grösseren Unabhängigkeit als der selbständige Handwerker, er braucht auch kein Unternehmer-Risiko zu tragen, das vollständig auf das Kapital überwälzt wird. Auch die Furcht vor der Zermalmung des wirtschaftlich und politisch wichtigen Mittelstandes hat sich als ungerechtfertigt erwiesen. Der aus kleinen Unternehmern, Handwerkern, Händlern usw. bestehende alte Mittelstand wird durch einen neuen ersetzt, der nicht bloss aus den verschiedenen Kategorien von Beamten und Angestellten, sondern auch schon aus Arbeitern gebildet wird, da es bereits qualifizierte Arbeiter gibt, deren Bezüge denen eines ziemlich hoch gestellten Staatsbeamten nicht nachstehen.

Auch die Angst vor den übermächtigen Industriekönigen, die man durch Anhäufung grosser Kapitalien in den Händen Einzelner entstehen sah, ist sichtlich im Verschwinden. Ein grosser glänzender Name ist in der Industrie weniger durch Geld als durch Tatkraft zu erreichen. Die alte Personalunion zwischen Arbeit und Kapital ist zerrissen worden, weil an die Stelle des Einzelbetriebs immer mehr der unpersönliche Gesellschaftsbetrieb tritt. Der erste Unternehmer lebt häufig nur noch in der Firma fort, die Unternehmerfunktion hat sich aber unterdessen auf eine immer grössere Zahl von häufig wechselnden und daher namenlosen Aktionären und Teilhabern verteilt. Die Kapitalskonzentration schreitet auch weiter unaufhaltsam vor, aber die Machtkonzentration des Einzelnen ist im Verschwinden. Auch im Reiche des Geldes vollzieht sich ein Demokratisierungsprozess. Die Aktiengesellschaft als erste Form der Kapitalsgesellschaft hat sich zwar in mancher Industrie nur langsam Bahn gebrochen, weil man nur die Nachteile der kostspieligeren Verwaltung und schwerfälligeren Leitung sah. Allmählich wurden aber die Vorteile in immer höherem Grade eingeschätzt. Die Kapitalsbeschaffung ist eine ungleich leichtere und billigere, weil die Gesellschaft vom Wechsel der Mitglieder unabhängig und hinsichtlich ihrer Geschäftstätigkeit einer Kontrolle der Öffentlichkeit ausgesetzt ist. Das Leihkapital, das durch Ausgabe von Obligationen, durch Aufnahme von Hypothekenschulden und schwebenden Schulden gefunden wird, bietet hiebei den besonderen Vorteil, dass es über die eigene Verzinsung hinaus in dem Unternehmen werbend mitarbeitet und dadurch den Ertrag der Aktien vermehren hilft. Ein besonderer Nutzen wird durch die Agiogewinne erzielt, welche bei der Emission neuer Aktien zuweilen sogar 150 bis 200% betragen und dem Reservefonds zugewiesen werden, denn auf diese Weise arbeitet ein Kapital mit, das überhaupt nicht verzinst zu werden braucht.

Das Aktienwesen hat denn auch in Deutschland eine ausserordentliche Entwicklung erfahren. Nach einer Veröffentlichung des Kaiserlichen Statistischen Amtes gab es in Deutschland im Jahre 1911 nach Ausscheidung der in Liquidation und im Konkurs befindlichen Gesellschaften 5340 tätige Aktiengesellschaften. Nach einigen Ausscheidungen, wie der Kartelle, welche satzungsgemäss eine Dividende ausschliessen, der Gesellschaften zu gemeinnützigen Zwecken usw. kommt die amtliche Statistik zu 4607 reinen Erwerbsgesellschaften, welche über ein eigenes Kapital in Aktien und Reserven von 16,1 Milliarden Mark verfügen und jährlich mehr als eine Milliarde an Dividenden verteilen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der letzten Zeit neben die alte Gesellschaftsform eine neue getreten ist, die der Gesellschaften mit beschränkter Haftung, welche sich besonders für industrielle Unternehmungen kleineren Umfanges eignet. An solchen Gesellschaften bestanden Ende des Jahres 1911 bereits 22 179 mit einem Stammkapital von 4,2 Milliarden Mark.

Der spezialisierte Grossbetrieb war das nächste Ziel der industriellen Entwicklung, weil er die äusserste Herabdrückung der Produktionskosten ermöglichte. Mit ihm wuchs aber eine doppelte Gefahr. Vor allem wurde der Betrieb im Falle einer Bedarfsänderung stärker in Mitleidenschaft

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/415&oldid=- (Version vom 30.10.2021)