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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Die nun folgenden 20 Jahre haben dem Parteileben als solchem und den liberalen Parteien insbesondere manche neue Schwierigkeiten gebracht. Die immer mehr zunehmende Organisation der Stände und Berufsklassen erzeugte neue Probleme auch für die Parteien.

Hunderttausende, später Millionen deutscher Arbeiter suchten leider ihre Vertretung in der Sozialdemokratie und gingen dem Liberalismus verloren.

In den Zeiten der Notlage deutscher Landwirtschaft entstand der Bund der Landwirte, dem es gelang, der nationalliberalen Partei viele Wähler abwendig zu machen. Diese beiden Klassenorganisationen stellten ihre Klassenforderungen mit einer solchen Entschiedenheit in den Vordergrund, dass darunter die Politik des allgemeinen Wohles und des Ausgleiches unter den Bevölkerungsklassen notleiden musste.

Unsere Partei ist in diesen 20 Jahren sich selbst treu geblieben. Dabei hat sie eine Menge neuer Aufgaben und Ziele in ihr Programm aufnehmen müssen und hat mit Eifer und Gewissenhaftigkeit diese neugestellten Aufgaben zu lösen gesucht.

So hat sie der Not der Landwirtschaft ihre volle Aufmerksamkeit gewidmet und im Reichstag und in den einzelnen Landtagen überall mitgeholfen, wo es galt, die Produktionsbedingungen der Landwirtschaft zu verbessern. Sie hat dies insbesondere bei dem Zolltarif des Jahres 1902 bewiesen, als sie unbekümmert um manche Schwierigkeiten im eigenen Lager, im Kampf gegen die Führung des Bundes der Landwirte und deren überspannte Forderungen, und gegen eine wüste Obstruktion der Sozialdemokratie den Ausschlag für die höheren landwirtschaftlichen Zölle gab, die überdies als Minimalzölle im Zolltarif festgelegt wurden. Dieses und die ihm folgenden Handelsverträge haben, wie selbst von agrarischer Seite später zugegeben werden musste, die Produktionsbedingungen der deutschen Landwirtschaft gehoben und einer gedeihlichen Entwickelung den Weg gebreitet. Auch in der Frage des Schutzes der deutschen Viehzucht gegen die Einschleppung von Seuchen ist die Partei unbekümmert um manche Gegenströmungen der Landwirtschaft zu Diensten gewesen. So stand sie auch der Gründung des deutschen Bauernbundes, der gegenüber den grossagrarischen Interessen sich des kleinen und mittleren Bauernstandes annimmt, sympathisch gegenüber.

Die Mittelstandsfragen wurden in weitem Umfange in den Kreis der Parteibestrebungen gezogen, wobei weite Teile des deutschen Mittelstandes mit ihrem sachverständigen Rate halfen; die Handwerker-Organisation, die Gesetze über den unlauteren Wettbewerb, der Bauhandwerkerschutz und viele andere Gesetze geben hiervon Zeugnis. Freilich musste die Partei allen Bestrebungen Widerstand leisten, die vermeinten, durch Belebung mittelalterlichen Geistes dem Handwerk helfen zu können und den Kampf aufnehmen gegen Bestrebungen, die dem Handwerk nichts nützen konnten, sondern mangels freier Bewegung es erdrosseln mussten.

Auch die soziale Reform, die ja nimmer ein Ende finden kann, sondern sich Hand in Hand mit der Entwicklung der Industrie immer neuen Problemen zuwenden muss, wurde eifrig gepflegt und das Endziel, die missleiteten Arbeiter dem monarchischen Staat zurückzugewinnen und sie zu heilen von ihren undurchführbaren Utopien und dem Kinderglauben an den Zukunftsstaat, wurde stets im Auge behalten und in eifriger Mitarbeit gepflegt.

Die beiden grossen Ziele der Partei aber: Pflege der nationalen Aufgaben und Erfüllung des Volkes mit liberalem Geiste stehen nach wie vor im Vordergrund der Bestrebungen der nationalliberalen Partei. So hat sie in den vordersten Reihen gekämpft für den Ausbau unseres Heeres, die Schaffung einer deutschen Flotte und die Entwickelung der deutschen Kolonialpolitik. Freilich eine unsoziale Reichsfinanzreform, die der Sozialdemokratie neues Wasser auf ihre Mühlen brachte, vermochte die Partei nicht mitzumachen und fand darin auch die einmütige Billigung ihrer Parteitage in Berlin 1909 und Kassel 1910. Nicht jede Vermehrung der Mittel des Reichs ist eine nationale Tat, sondern nur eine solche Reform, welche gerecht ist und nicht das Vertrauen des Volkes so sehr erschüttert, wie dies bei der Finanzreform des Jahres 1909 der Fall war.

Wie sehr diese Gedanken selbstloser von Parteivorteilen und Interessenfragen nicht beeinflusster Sorge für eine starke Wehr unseres Vaterlandes Gemeingut der Nation geworden sind,

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/43&oldid=- (Version vom 1.9.2021)