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Das eigentliche Fundament und den wichtigsten Bestandteil dieses Mittelstandes bildet der Bauernstand. Er entspricht auch dem altmittelständischem Ideal am vollkommensten, doch ist der von der Gutsuntertänigkeit befreite, wirtschaftlich ganz auf sich selbst gestellte Bauer in Zentraleuropa in der Hauptsache erst eine Schöpfung der grossen Agrarreformen des 19. und teilweise des 18. Jahrhunderts. Der Bauernwirtschaft, welcher bei uns, allgemein gesprochen, die Betriebe zwischen 2 und 100 ha zuzurechenen sind, gehören etwa 70% der landwirtschaftlich genutzten Fläche an, so dass sie durchaus den Schwerpunkt der deutschen Agrarverfassung bildet. Von jenen 70% entfallen je 10% auf die kleinbäuerlichen und je 30% auf die mittel- und die grossbäuerliche Wirtschaft, während weitere 25% dem Grossgrundbesitz zufallen und 5–6% der Parzellenwirtschaft. Dabei ist nicht ausser Acht zu lassen, dass je nach dem Intensitätsgrade des Landwirtschaftsbetriebes, wie nach klimatischen und Bodenverhältnissen der Umfang der einen bäuerlichen Betrieb bedingenden Bodenflächen, ferner auch das Mischungsverhältniss der Besitz- und Betriebsklassen in den verschiedenen Gegenden sich verschieden gestalten.

Wenn sich der Bauernstand in dem Umfange, in welchem er aus den grossen Agrarreformen hervorgegangen ist, trotz aller Verschiebungen im einzelnen, im allgemeinen bis zum heutigen Tage behauptet hat, so liegt die tiefere Ursache dieser Erscheinung im inneren Wesen der landwirtschaftlichen Produktion. Hier besitzt der Grossbetrieb keine solche spezifische Überlegenheit gegenüber dem kleinem Betriebe, wie es auf weiten Gebieten der Industrie und des Handels der Fall ist. Ein etwaiges Übergewicht des Grossbetriebes im Körnerbau wird aufgewogen durch die grösseren Erfolge des bäuerlichen Betriebes in der Viehzucht, für die er günstigere Bedingungen bietet. Je kleiner die Betriebe, desto stärker – vom Parzellenbetriebe abgesehen – die Viehhaltung. Überdies nimmt bei zunehmender Flächengrösse von einem gewissen Punkte an die Wirtschaftlichkeit des Einzelbetriebes überhaupt ab. Vor allem aber schliesst der Landwirtschaftsbetrieb eine Absatzkonkurrenz solcher Art aus, wie sie Gewerbe und Handel beherrscht. Da dort der Einzelbetrieb nur innerhalb der bewirtschafteten Bodenfläche die Möglichkeit gesteigerter Produktion in sich birgt, vermag keiner den anderen durch Über- bezw. Unterbietung in seiner Existenz zu bedrohen, indem er etwa ihm den Absatz entzieht und ihn mit seinen Betriebsmitteln lahmlegt. Unter diesen Umständen gereicht die bessere Schul- und Fachbildung, welche man der bäuerlichen Bevölkerung in wachsendem Masse angedeihen lässt, ihr zum besonderen Vorteil, indem sie ihr ermöglicht, ihre gesicherte wirtschaftliche Lage produktiv wirksamer auszunutzen. Zugleich brachte die grossartige Entwickelung des Genossenschaftswesens, seitdem es Raiffeisen gelungen war, es der Eigenart der ländlichen Verhältnisse besser anzupassen, dem bäuerlichen Betriebe eine gewaltige Stärkung. Im Vordergrunde steht das grossartige Netz von Spar- und Kreditvereinen, welche nicht nur dem Bauern den erforderlichen Personalkredit vermitteln, sondern auch dem Lande seine eigenen Kapitalien erhalten und andere zuführen. Dazu kommen die rapid sich verbreitenden Einkaufs- und Berufsgenossenschaften für gemeinsame, daher billigere und gegen Betrug Schutz gewährende Beschaffung von Dünger- und Futtermitteln, Saatgut, Maschinen und sonstige Betriebsmittel. Für die Bildung derartiger Genossenschaften bietet der Bauernstand einen ganz besonders günstigen Boden, da sein Bedarf kein individualisierter, sondern gleichmässiger Massenbedarf ist und seine Mitglieder eben eine geschäftliche Konkurrenz im üblichen Sinn nicht kennen, die ihrer Natur nach Genossenschaftsbildung letzterer Art zum mindesten erschwert, ja weithin ganz unmöglich macht. In anderer Richtung brachten die Genossenschaftsmolkereien einen bedeutenden Aufschwung, von denen es im Jahre 1909 nicht weniger als 3271 gab. Als Produktivgenossenschaften nur partiellen Charakters nehmen sie dem einzelnen landwirtschaftlichen Betriebe nicht die Selbständigkeit und verletzen kein anderes Mittelstandsinteresse; nur als Verwertungs- und Absatzstellen beschränken sie den selbständigen Handel ebenso wie es die Einkaufsgenossenschaften tun. In gleicher Richtung wirken Verwertungsgenossenschaften anderer Art, wie die Kornhäuser, Viehverwertungsgenossenschaften, Viehzentralen usw. Doch sind bei ihnen Wirksamkeit und Erfolge problematischer.

Die Erhaltung und möglichste Vermehrung des Bauernstandes bildet in der Regel, jedenfalls für Deutschland angesichts der zu grossen Ausdehnung des Grossgrundbesitzes im Osten, ein hervorragendes nationalwirtschaftliches Interesse. Denn Vorherrschaft des Grossgrundbesitzes entvölkert

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 421. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/437&oldid=- (Version vom 1.11.2021)