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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

in eine Partei, die den Namen Deutsche freisinnige Partei annahm. Sie umfasste 100 Mitglieder und ihre programmatische Grundlage wurde in 6 Einigungspunkte niedergelegt. Dieselben lauteten:

„1. Entwicklung eines wahrhaft konstitutionellen Verfassungslebens in gesichertem Zusammenwirken zwischen Regierung und Volksvertretung und durch gesetzliche Organisation eines verantwortlichen Reichsministeriums. Abwehr aller Angriffe auf die Rechte der Volksvertretung, insbesondere Aufrechterhaltung der einjährigen Finanzperiode, der jährlichen Einnahmebewilligung, der Redefreiheit.

2. Wahrung der Rechte des Volkes: Erhaltung des geheimen, allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts, Sicherung der Wahlfreiheit, insbesondere auch durch Bewilligung von Diäten; Press-, Versammlungs-, Vereinsfreiheit; Gleichheit vor dem Gesetz ohne Ansehen der Person und der Partei; volle Gewissens- und Religionsfreiheit; gesetzliche Regelung des Verhältnisses zwischen dem Staate und den Religionsgesellschaften unter gleichem Rechte für alle Bekenntnisse.

3. Förderung der bestehenden Volkswohlfahrt auf Grund der bestehenden Gesellschaftsordnung. Bei voller Wahrung der Gleichberechtigung, der Selbsttätigkeit und des freien Vereinigungswesens der arbeitenden Klassen Eintreten für alle auf Hebung derselben fühlenden Bestrebungen, Bekämpfung auch des Staatssozialismus, sowie der auf Bevormundung und Fesselung des Erwerbs- und Verkehrslebens, der Gewerbefreiheit und Freizügigkeit gerichteten Massregeln.

4. Im Steuersystem Gerechtigkeit und Schonung der Volkskraft; Entlastung der notwendigsten Lebensbedürfnisse; keine Zoll- und Wirtschaftspolitik im Dienste von Sonderinteressen; keine Monopole; Gesetzgebung und wirksame Aufsicht des Reiches im Eisenbahnwesen.

5. Erhaltung der vollen Wehrkraft des Volkes; volle Durchführung der allgemeinen Dienstpflicht bei möglichster Abkürzung der Dienstzeit; Feststellung der Friedenspräsenzstärke innerhalb jeder Legislaturperiode. Dies alles zur Befestigung der nationalen Einigung Deutschlands, in Treue gegen den Kaiser und auf dem verfassungsmässigen Boden des Bundesstaates.“

Die Partei, von Richter, Bamberger, Barth, Schmid-Elberfeld, Schräder und Rieckert geführt, von dem Fürsten Bismarck lebhaft befehdet, vertrat dieses Programm in den 80er Jahren nachdrücklich im Parlament; sie wandte sich aus Gründen des konstitutionellen Rechts gegen ein Septennat der Militärausgaben, weil diese siebenjährige Bindung die Dauer der damals dreijährigen Legislaturperioden weit überstieg. Bismarck benützte die Septennatsfrage und die damalige Gereiztheit zwischen Frankreich und Deutschland, um den Reichstag, in dem die ihm zustimmenden Kartellparteien der Konservativen und Nationalliberalen nicht die Mehrheit gehabt hatten, anzugreifen und aufzulösen.

In dem unter der Erregung der nationalistischen Stimmungen neugewählten Reichstag war die freisinnige Partei wesentlich geschwächt eingezogen und Fürst Bismarck hatte für seine Politik nochmals die Mehrheit erlangt. In die Zeit dieser Reichstagsperiode 1887 bis 1890 fiel der Tod Kaiser Wilhelm I. und die Thronbesteigung Kaiser Friedrichs. In den 100 Tagen seiner Regierung gab Kaiser Friedrich durch die Entlassung des konservativen Wahlministers Puttkammer und die Verleihung von Auszeichnungen an Virchow und von Forckenbeck seine Absicht, trotz des energischen Widerstands von Bismarck dahin zu erkennen, dass er mit der Taktik einer Achtung der freisinnigen Politiker gebrochen wissen wolle, und dass er eine andere Stellung für gerechtfertigt und notwendig halte als diejenige, die Fürst Bismarck parteipolitisch forciert hat. Der Tod Kaiser Friedrichs hemmte die natürliche politische Entwickelung, die sich vollzogen haben würde.

Kaiser Wilhelm II. proklamierte die Fortsetzung des alten Kurses. Fürst Bismarck verlangte die Verlängerung des Sozialistengesetzes, das die freisinnige Partei als Ausnahmegesetz und als ein verfehltes Mittel wie in früheren Jahren so auch jetzt wieder ablehnte. Da eine Einigung zwischen Fürst Bismarck und der nationalliberalen Partei über die Dauer der Verlängerung nicht erzielt wurde, so fiel das Sozialistengesetz mangels eines die Verlängerung herbeiführenden Beschlusses des Reichstags.

Aus den unmittelbar hernach stattfindenden Neuwahlen Februar 1890 kehrte die Freisinnige Volkspartei verstärkt zurück. Die Mehrheit für die innere Politik Bismarcks hatte sich in

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/54&oldid=- (Version vom 3.9.2021)