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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

wie die mit 8 Stimmen Sieger gebliebene Vereinigung von Konservativen und Zentrum genannt wurde, war der erste greifbare Ausdruck eines völlig neuen Aufmarsches der Parteien, eines Lagers der Rechten gegenüber einem Lager der Linken. Der neue Reichskanzler Bethmann Hollweg wich in seiner Eröffnungsrede diesem Gedanken aus und proklamierte die Sehnsucht nach einer baldigen Verwischung der Gegensätze, indem er gleichzeitig für die Regierung „die Stellung über den Parteien“ reklamierte.

Die Parteieinigung des Linksliberalismus.

Die drei freisinnigen Parteien erkannten angesichts dieser Lage die Notwendigkeit engster Geschlossenheit. Sie lösten am 5. März 1910 die einzelnen Parteien formell auf und schufen am 6. März zu Berlin eine einheitliche Partei des Linksliberalismus, die den Namen „Fortschrittliche Volkspartei“ und ein am selben Tage beschlossenes, zuvor von allen einzelnen Parteien genehmigtes Programm und Partei-Statut annahm, auf Grund von Entwürfen, welche die Reichstagsabgeordneten Wiemer, Schrader, Payer und Müller-Meiningen gemeinsam aufgestellt hatten.

Das Organisationsstatut setzt als oberstes Organ der Partei den Parteitag, der aus den Reichstagsabgeordneten, einer Anzahl Landtagsabgeordneter, den Reichstagsabgeordneten der letzten Periode, den Zentralausschussmitgliedern und den Delegierten der Reichstagswahlkreise besteht. Weitere Organe sind der Zentralausschuss und der Geschäftsführende Ausschuss. Die Parteimitgliedschaft setzt Zustimmung zum Programm, Anmeldung und Beitragsleistung voraus. Die Partei gliedert sich in Ortsvereine, Bezirksvereine und Landesverbände, welche selbständige Kompetenzen haben. Für die Entscheidung bei Stichwahlen ist die Parteiorganisation des Wahlkreises zuständig.

Das Programm stellt den Einzelforderungen folgende Leitsätze voran:

Die Partei tritt ein für Schutz und Stärkung des Reiches und die Aufrechterhaltung seiner bundesstaatlichen Grundlagen.
Die Partei fordert die gleichberechtigte Mitwirkung aller Staatsbürger in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung zur Förderung des politischen und sozialen Fortschritts, zur Hebung der Wohlfahrt und Volksbildung, sie bekämpft alle Sonderbestrebungen, die dem Gemeinwohl zuwiderlaufen, und erstrebt den friedlichen Ausgleich der sozialen Gegensätze in einer die Freiheit des einzelnen verbürgenden Gesellschaftsordnung.
Die Partei verpflichtet ihre Mitglieder zu tatkräftiger Mitarbeit auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens und erwarte von diesem gemeinsamen und planmässigen Wirken den Ausbau der politischen Freiheit und die für die Gesamtheit unentbehrliche Steigerung des berechtigten Einflusses des deutschen Bürgertums.

Die Einzelforderungen erstrecken sich über das ganze Gebiet der staatlichen Einwirkungsmöglichkeit. Eine Darstellung der leitenden Gedanken habe ich im Auftrag des geschäftsführenden Ausschusses in einer Schrift „Das Arbeitsprogramm der Fortschrittlichen Volkspartei“ versucht. Die Forderungen des Programms, sind von einer sie verbindenden und einheitlichen Staatsauffassung getragen, sie lassen sich unter den Hauptkategorien, die den neun Abschnitten des Programms entsprechen, dahin zusammenfassen:

Der Staat: Gleichheit vor dem Gesetz. Ämter und Stellen. Schutz gegen Laune, Willkür und Amtsmissbrauch. Auswahl nach Tüchtigkeit. Das Wahlrecht, Minderheitsschutz, Wahlfreiheit, Wahlkreiseinteilung. Reichsländische Verfassung. Die Reichsverfassung, konstitutionelle Regierungsweise, Budget- und Gesetzgebungsrecht, Erziehung zur Verantwortlichkeit. Kollegiales und verantwortliches Reichsministerium. Die Unzulänglichkeit des Bundesrats, Vereins-, Versammlungs- und Pressrecht. Hebung der Presse, Selbstverwaltung. Vereinfachung und Verbilligung des Verwaltungsapparates, Fremdenrecht.

Gewissens- und Religionsfreiheit, Schule und Unterricht. Schutz für die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, des Gewissens, der Wissenschaft, Forschung und Kunst. Gleichheit der Religionsgesellschaften. Toleranz, Parität, Neutralität und Oberhoheit des Staats. Staatlicher Unterricht. Freiheit des Staats und Freiheit der Kirchen, Trennung ihrer Gebiete, Verbreitung und Vertiefung der Volksbildung. Keine konfessionelle Trennung in der Schule. Unentgeltlichkeit der Volksschule.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/57&oldid=- (Version vom 4.9.2021)