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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

in dem bekannten Satz aus seiner 1869 gegen Schweitzer gerichteten Rede „Die politische Stellung der Sozialdemokratie“ zum Ausdruck kommt, die den Parlamentarismus verwirft. Sie lautet:

„Die Sozialdemokratie darf unter keinen Umständen und auf keinem Gebiet mit den Gegnern verhandeln. Verhandeln kann man nur, wo eine gemeinsame Grundlage besteht. Mit prinzipiellen Gegnern verhandeln heisst sein Prinzip opfern. Prinzipien sind unteilbar; sie werden entweder ganz bewahrt oder ganz geopfert. Die geringste prinzipielle Konzession ist die Aufgebung des Prinzips. Wer mit Feinden parlamentelt, parlamentiert, wer parlamentiert, paktiert.“

Diese Sätze sind nun freilich nie in der deutschen Sozialdemokratie buchstäblich befolgt worden. War doch auch Liebknechts engerer Bundesgenosse August Bebel schon damals in bezug auf den Parlamentarismus etwas andre Wege gegangen, so dass die Rede zugleich an seine Adresse gerichtet war. Aber Liebknecht siegte persönlich über Schweitzer, und bei seiner grossen Popularität beeinflusste seine Beurteilung des Parlamentarismus doch lange Zeit das Denken seiner Partei. Sie konnte dies um so mehr, als sie im Endergebnis in hohem Grade mit den Anwendungen zusammenfiel, die Marx und Engels aus ihrer Lehre vom Klassenkampf und den ökonomischen Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft gezogen hatten, so wenig Liebknechts Deduktion, dass man schon durch blosses Verhandeln mit Gegnern Prinzipien opfere, der materialistischen Geschichtsauffassung entspricht. Die letztere Theorie ist aber systematisch erst Ende der siebziger Jahre und im Laufe der achtziger Jahre in der Sozialdemokratie propagiert worden und eroberte die Geister in der Epoche des Bismarck’schen Ausnahmegesetzes, die nicht geeignet war, eine Abrechnung mit jenen politischen Deduktionen herbeizuführen.

Nachdem aber das Sozialistengesetz gefallen war, musste das Bedürfnis nach jener Abrechnung sich um so eher aufdrängen, als schon in den letzten Jahren der Geltung des Gesetzes die Sozialdemokratie dem Parlamentarismus einige weitere Zugeständnisse (Teilnahme an Kommissionsberatungen etc.) gemacht hatte, und das starke Wachsen ihrer Vertretungen im Reichstag und den Landtagen verstärkte Wahrnehmung von Arbeiterinteressen möglich machte. Es erfolgten im Jahre 1891 die Reden Georg von Vollmars in München über die nächsten Aufgaben der Sozialdemokratie, die eine Konzentration auf bestimmte Reformen vorschlugen, und wenn der Vorschlag auch noch im Herbst jenes Jahres auf dem Kongress der Sozialdemokratie zu Erfurt eine Ablehnung erfuhr, so war die Diskussion der Fragen, die die Debatte über ihn aufgewühlt hatte, damit noch nicht abgeschlossen.

Neue Fragen traten vielmehr hinzu. So gegen die Mitte der neunziger Jahre die Agrarfrage. Die immer stärkere Hinaustragung der Agitation auf das platte Land, wo man namentlich in Süddeutschland mit demokratisch gerichteten Klein- und selbst Mittelbauern zusammenstiess, sowie der damalige grosse Preissturz auf dem Markt der Hauptprodukte der Landwirtschaft legten den Gedanken nahe, dass die Sozialdemokratie sich auch der Bauern anzunehmen habe. Aber wie sollte das geschehen und wo war die Grenze zu ziehen, wenn die Partei sich nicht mit den Sätzen des eignen, 1891 in Erfurt beschlossenen Programms in Widerspruch setzen wollte, das die Bauern als eine vor dem Grossgrundbetrieb versinkende Schicht geschildert hatte? Es geschah in den Debatten über diese Frage, dass zuerst die Parole Revision der Parteianschauungen ausgegeben wurde. Auf dem Parteitag von Breslau (1895) erklärte der Delegierte Dr. Bruno Schönlank, es vollziehe sich eine „Revision der Vorstellungsweise“ in der Sozialdemokratie, eine „Umbildung der Begriffe“, die „unaufhaltsam weitergehe“ und vor der „der Fanatismus der Parteidogmatiker zu zerbröckeln“ beginne. (Breslauer Protokoll S. 152.) Prinzipiell war damit die Grenze einer bloss taktischen Diskussion schon überschritten, war die theoretische Grundlage des Parteiprogramms an einem wichtigen Punkt in Frage gestellt. Andere warfen die Frage auf, ob die materialistische Geschichtsauffassung in der Auslegung stimme, in der sie zumeist in der Partei propagiert wurde, ob der bewussten Aktion nicht eine grössere geschichtliche Bestimmungskraft zugeschrieben werden müsse, als wie es nach jener Auslegung erscheine, und schliesslich ward 1899 in einem Buch des Unterzeichneten „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ ausgeführt, die Sozialdemokratie müsse die Idee von einem in Bälde zu erwartenden wirtschaftlichen Zusammenbruch der Gesellschaft ganz

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/72&oldid=- (Version vom 5.9.2021)