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verabschieden und um so konsequenter auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet Reformarbeit betreiben. Das Buch rief leidenschaftlichen Widerspruch hervor, und der sozialdemokratische Parteitag von 1899 (Hannover) beschloss nach mehrtägigen Debatten eine Resolution, in der erklärt wurde, dass für die Sozialdemokratie keine Ursache vorliege von ihren Grundanschauungen abzugehen. Aber in der Debatte hatten eine namhafte Anzahl von Rednern sich mehr oder weniger zu ähnlichen Anschauungen bekannt, wie der Verfasser jenes Buches, und die Strömung behielt Bestand. In Anknüpfung an eine Schrift von Dr. Alfred Nossig „Revision des Sozialismus“, die 1901 herauskam, ward ihr schliesslich die Bezeichnung „Revisionismus“ beigelegt, obwohl die Schrift selbst von den meisten, die man nach ihr nannte, ziemlich schroff abgelehnt worden war. Nossig kehrte der Sozialdemokratie den Rücken, aber die Bezeichnung selbst blieb und erhielt schliesslich auch bei denen Kurs, die erst damit getroffen werden sollten. Der Revisionismus bezieht sich also sowohl auf die Theorie wie auf die Praxis des Sozialismus. In ersterer Hinsicht bedeutet er die Nachprüfung und entsprechende Neuformulierung der Theorie an der Hand der Erfahrung und erweiterten Erkenntnis. Da aber diese Theorie selbst Entwicklungstheorie ist und ihre Schöpfer das dogmatische Denken und die Proklamierung von letzten Wahrheiten verwarfen, heisst die Revision hier fast nur Ablehnung von bestimmten Auslegungen der Theorie und von Folgerungen, die zu verschiedenen Zeiten aus ihr gezogen wurden. Die Gegenüberstellung Marxismus – Revisionismus hat insofern keine Realität. Sie erhält sie erst dadurch, dass man Sätze von sekundärer Bedeutung und gewisse Anwendungen der Marx’schen Theorie für integrierende Teile dieser erklärt und danach die Scheidung vornimmt. Die Fundamentalsätze der Marx’schen Gesellschaftstheorie werden auch von den Revisionisten anerkannt. Soweit die Theorie in Betracht kommt, wäre es also richtiger von einem Revisionismus im Marxismus als von einem antimarxistischen Revisionismus zu sprechen.

In der Praxis heisst der Revisionismus grundsätzliche Betonung der Reformarbeit in Politik und Wirtschaft. Es wird das zuweilen mit „Opportunismus“ gleichgesetzt. Aber in der Politik knüpft sich an den Begriff des Opportunismus die Vorstellung der Preisgabe wichtiger Grundsätze, von Erfolgshascherei und schwächlicher Rechnungsträgerei, und deshalb muss die Gleichsetzung abgelehnt werden. Es ist auch eine konsequente Reformarbeit ohne das möglich. Aus ähnlichem Grunde ist das, auch sprachlich unschöne Wort „Possibilismus“ abzulehnen. Viele revisionistische Sozialdemokraten haben dagegen die Bezeichnung als Reformisten für sich akzeptiert.

In der Betonung der Reform liegt das Wesen der Praxis des sozialdemokratischen Revisionismus. Da nun auch die in der Sozialdemokratie vorherrschende Richtung für Reformen kämpft, das geltende Programm der Partei Reformen aller Art fordert und Parteitagsbeschlüsse das Reformprogramm sehr erweitert haben, ist auch hier der Unterschied nur einer des Grades der Akzentuierung. Massgebend für die stärkere oder schwächere Betonung ist aber nicht die Rücksicht auf Mächte des Tages, sondern die Auffassung vom allgemeinen Gang der gesellschaftlichen Entwicklung. Wo keine solche theoretische Grundlage das Handeln normativ bestimmt, fehlt ein für den Revisionismus wesentliches Moment. Aber auch ohne sie können Parteien oder Parteifraktionen durch die Sprache der Tatsachen zu Änderungen ihrer Politik veranlasst werden, die jener Auffassung entsprechen. Ein Beispiel dafür liefern die. Budgetbewilligungen durch sozialdemokratische Fraktionen in süddeutschen Landtagen. Grundsätzlich kann die Frage der Abstimmung über Budgets nur unter Bezugnahme auf die Theorie der politisch-sozialen Entwicklung entschieden werden, und es liegt auf der Hand, dass die wesentlich evolutionistische Auffassung von der Stellung der Sozialdemokratie im modernen Staatsleben dahin führt, unter bestimmten Voraussetzungen auch im nichtsozialdemokratischen Staat Budgets zu bewilligen. Da in Süddeutschland jene Voraussetzungen ziemlich gegeben waren, liess jedoch schon einfaches politisches Nachdenken die Budgetbewilligung als angezeigt erscheinen.

Auf drei Kongressen – Lübeck 1901, Nürnberg 1908 und Magdeburg 1910 – hat sich die Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie scharf gegen die Budgetbewilligungen ausgesprochen, und nachdem schon auf einem andern Kongress – Dresden 1903 – die revisionistischen Tendenzen, definiert als „Entgegenkommen an die bestehende Ordnung der Dinge“, heftige Verurteilung erfahren hatten, ward auch den Resolutionen von Nürnberg und Magdeburg eine entsprechende

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/73&oldid=- (Version vom 5.9.2021)