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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Fortschritt führt zu einer immer weitergehenden Differenzierung der wirtschaftlichen Verrichtungen und bahnt allmählich eine technische wie gesellschaftliche Arbeitsteilung an. Die Arbeitsteilung aber trennt und verknüpft wiederum die Menschen politisch, geistig, wirtschaftlich und zwar in dem Masse, wie die Kultur steigt und die gesellschaftlichen Körper grösser und verschlungener werden. So kommt es einerseits zu einer Scheidung der Gesellschafts- und andererseits zur Ausbildung der verschiedenen Berufsklassen: das Handwerk tritt der Urproduktion, die Stadt dem Lande gegenüber; die Verfolgung religiöser Zwecke und die Verwaltung der gemeinsamen Interessen wird eine eigene Berufsaufgabe. Wissenschaftliche und künstlerische Bildung ermöglicht eine besondere wirtschaftliche Existenz – die liberalen Berufe sondern sich von den wirtschaftlichen Berufen ab.

Die Tätigkeiten, welche in unseren neuen Volkswirtschaften die liberalen Berufe charakterisieren, nämlich die Ausübung des ärztlichen und Rechtsanwaltsberufes, die Journalistik, das Künstler- und Gelehrtentum bildeten im Altertum vorwiegend die unbezahlte Nebenbeschäftigung der Priester oder anderen Aristokraten. Daneben fand sich aber früh der bezahlte Spielmann, Gaukler, Arzt und Künstler. Mit Ausbildung der Geldwirtschaft nimmt die Bezahlung der liberalen Tätigkeit einen immer grösseren Umfang an; es drängten sich zu diesen Berufen Talente aus allen Klassen. Insbesondere sind hierzu im Zeitalter des Perikles, Sokrates und Plato die Sophisten zu rechnen, die gewerbsmässig, für Geld, nicht bloss mancherlei positive Kenntnisse (Grammatik, Rhetorik, Rechts- und Staatslehre), sondern sittliche und politische Tüchtigkeit überhaupt zu unterrichten sich anheischig machten. Im Rom der Kaiserzeit waren es hauptsächlich asiatische und griechische Elemente, die daselbst als „Freigelassene“ lebten, keine feste Vorbildung, keine Standesehre besassen, sich für die minderwertigsten Gauklerkünste, wie für guten ärztlichen Rat gleich hoch bezahlen liessen und deren Charakterlosigkeit, Korruption und Gewinnsucht sprichwörtlich wurde.

In den einfachen mittelalterlichen Verhältnissen wurde die liberale Tätigkeit wieder zur unbezahlten Aristokratenarbeit des Klerikers und des Patriziers. Die Klöster waren der Hort stiller Gelehrsamkeit und wissenschaftlicher Bildung; an den Höfen der Ritter und Landesherren wurde eine edle Kunst gepflegt. Als beim Übergang in die komplizierte moderne Gesellschaft die Gelehrten- und Künstlertätigkeiten wieder nach Lohn zu gehen begannen, drohten die ähnlichen Gefahren, wie im Altertum: Die fahrenden Gelehrten, Schauspieler und Journalisten setzten sich vorwiegend aus Elementen zusammen, die moralisch keineswegs einwandfrei waren oder die sonstwie in anderen Karrieren Schiffbruch gelitten hatten.

Erst im letzten Jahrhundert, mit der Entwicklung unseres neuen Schul-, Studien- und Examenwesens, sowie unter dem Einfluss der Standesvereine, der Ärztekammern mit ihren Ehrengerichten etc. haben sich die meisten liberalen Berufe zu festen Laufbahnen umgebildet. Die einzelnen Gruppen haben für ihre Berufsangehörigen eine feste Standesehre, bestimmte Normen über Vorbildung, Studiengang, Berufspflichten und sichere Anstandsschranken des Gelderwerbes geschaffen. Obwohl alle diese Kreise dadurch ein gemeinsames Band umschlingt, dass sie an einer über der Volksschule stehenden Bildung und Gesittung und an gewissen gesellschaftlichen Lebensformen gleichmässig teilnehmen, so zeigen doch vielfach ihre Herkunft, ihre Sitten, ihre rechtliche und soziale Stellung grosse Abweichungen.

Die Zahl der Personen, welche heute zu den liberalen Berufen gerechnet werden, hat sich in den letzten hundert Jahren ausserordentlich vermehrt. Ihre Gesamtziffer lässt sich aus der Reichsstatistik nicht einwandfrei feststellen, da in dieser Berufsgruppe die Angehörigen der freien Berufe nicht von dem öffentlichen und Privatbeamtentum geschieden sind. Nichtsdestoweniger gibt die Betrachtung einzelner hierher gehöriger Berufsarten immerhin ein interessantes Bild. Nach der Reichsstatistik waren z. B. Erwerbstätige im Hauptberuf in der Berufsart Gesundheitspflege und Krankendienst tätig: 1882: 73 299, 1895: 122 138, 1907: 179 782.

In der Berufsart Privatgelehrte, Schriftsteller und Journalisten gab es im Jahre 1895: 5507, im Jahre 1907: 8753.

Die Berufsart Theaterdirektoren, Schauspieler, Dirigenten, Musiker und Künstler aller Art wies 1882: 46 508, 1895: 65 565, 1907: 81 415 Erwerbstätige auf.

Die folgende Darstellung muss sich, unter Ausschaltung des Ärzte- und Rechtsanwaltsstandes, welcher besonders behandelt ist, darauf beschränken, einige der wichtigsten hierher gehörenden

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/100&oldid=- (Version vom 14.11.2021)