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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

auf 8 Wochen (statt auf 6), erstreckt worden, von denen mindestens 6 auf die Zeit nach der Niederkunft fallen müssen, so dass das Wochengeld ausser der Wöchnerinnenunterstützung eventuell eine mässige Schwangerenunterstützung umfasst. Den neugeschaffenen Landkrankenkassen, welche vorzugsweise Landarbeiter und Dienstboten umfassen, ist sogar gestattet worden, den Bezug des Wochengeldes zeitlich weiter zu beschränken, bis herunter auf 4 Wochen.

Das Wochengeld wird nach wie vor in der Höhe des Krankengeldes, nicht des vollen Lohnes, gewährt unter Ausschluss weiteren Krankengeldes. Mit Zustimmung der Wöchnerin kann an Stelle des Wochengeldes Kur und Verpflegung in einem Wöchnerinnenheim treten, auch Hilfe und Wartung durch Hauspflegerinnen, doch muss in letzterem Falle der Wöchnerin mindestens die Hälfte des Wochengeldes belassen werden. Ein Anspruch auf obligatorische Gewährung von Hebammendiensten und ärztlicher Geburtshilfe ist den Wöchnerinnen nicht eingeräumt, doch können die einzelnen Kassen freiwillig durch ihre Satzung solche Leistungen, soweit sie bei der Niederkunft erforderlich werden, den versicherungspflichtigen Ehefrauen oder selbst allen weiblichen Versicherungspflichtigen, somit auch den unehelich Gebärenden, zubilligen.

Neben dem Wochengelde ist eine weitergehende Schwangerenunterstützung eingeräumt, doch auch sie nur als fakultative, nicht als obligatorische Kassenleistung. Sie besteht in einem Schwangerengelde in Höhe des Krankengeldes bis zur Gesamtdauer von 6 Wochen, das, eventuell unter Einrechnung des vor der Niederkunft gezahlten Wochengeldes, denjenigen zusteht, die infolge der Schwangerschaft arbeitsunfähig werden. Desgleichen können die Kassen durch Satzungsbestimmung Schwangeren Hebammendienste und ärztliche Behandlung, die bei Schwangerschaftsbeschwerden erforderlich werden, zubilligen. Gewährung von Stillgeldern ist bis zum Ablauf der zwölften Woche nach der Niederkunft zulässig, nur dürfen sie den Betrag des halben Krankengeldes nicht übersteigen. Anspruch auf Wochenhilfe und Stillgeld dürfen die Kassensatzungen auch den versicherungsfreien Ehefrauen der Versicherten einräumen, nicht aber im Falle der Niederkunft die erforderlichen Hebammendienste und etwaige Geburtshilfe.

Da nach den bisherigen Erfahrungen die Krankenkassen von der Befugnis zur Ausdehnung der Mutterschaftsversicherung voraussichtlich nicht in wesentlichem Umfange Gebrauch machen werden und da überdies auch in Zukunft immer noch zahlreiche bedürftige Mütter der Krankenversicherungspflicht entrückt bleiben, so eröffnet sich den privaten, auf Selbsthilfe beruhenden Mutterschaftskassen ein reiches Feld der Betätigung. Die erste Anstalt dieser Art bildet die mutualité maternelle, die, auf Anregung Jules Simon’s von dem französischen Industriellen Felix Poussineau in Paris gegründet, im Jahr 1909 nicht weniger als 50 000 Versicherte in etwa 150 Tochtergesellschaften umfasste und der es gelang, die Kindersterblichkeit auf 3 Prozent herabzusetzen. Nach diesem Vorbilde wurde die erste deutsche Mutterschaftskasse im Jahr 1909 mit Hilfe öffentlicher und privater Unterstützungen in Karlsruhe errichtet. Gegen einen mässigen Monatsbeitrag gibt sie den am Ort lebenden Frauen und Mädchen, soweit ihr eigenes oder Familieneinkommen 3000 M. nicht übersteigt, nach einjähriger Karenzzeit ein Anrecht auf Wöchnerinnenunterstützung wie auf Stillprämien. Erst vereinzelt sind andere Städte dem Beispiele gefolgt. Die Karlsruher Kasse war eine Schöpfung der dortigen Propagandagesellschaft für Mutterschaftsversicherung, deren Endzweck die Erringung einer alle Bedürftigen umfassenden staatlichen Schwangeren- und Wöchnerinnenunterstützung bildet.

Die grosse Bedeutung, welche einer umfassenden Mutterschaftsversicherung wie eines verstärkten Mutter- und eines hiermit eng zusammenhängenden Säuglingsschutzes überhaupt nicht nur im Hinblick auf die unmittelbar Beteiligten, sondern auch für das Gemeinwohl zukommt, ist unverkennbar. Während in den Jahren 1907, bezw. 1906 bezw. 1905 die Säuglingssterblichkeit in Italien 16,1 Proz., in Frankreich 14,3 Proz., in England 11,8 Proz., in Schottland 11,5 Proz., in Dänemark 10,9 Proz., in Schweden 8,1 Proz. und in Norwegen sogar nur 6,9 Proz. betrug, erreichte sie 1907 in Deutschland die hohe Rate von 17,6 Proz., die nur von Österreich mit 23,1 Proz. und von Russland mit 27,2 Proz. übertroffen wird. Eine wesentliche Herabdrückung dieser Sterblichkeitsziffer, zugleich auch eine stärkere Verminderung der Frauenleiden, ist zum Teil durch die Möglichkeit bedingt, den Arbeiterfrauen grösseren Schutz und bessere Pflege während der Schwangerschaft zu verschaffen. Ein Arbeiten bis kurz vor der Niederkunft hat nach ärztlichem

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/130&oldid=- (Version vom 19.11.2021)