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ein Gewinn, dass an Stelle eines einzigen grossen und leicht einförmigen Bundes die bunte Mannigfaltigkeit vieler Korporationen getreten und geblieben ist.

Auch für den Studenten ist das A und das O die akademische Freiheit – in ihren drei Bedeutungen : als Lehrfreiheit des Professors, damit der Student zu diesem in das richtige Vertrauensverhältnis komme; als Lernfreiheit für sich selber, damit er in der Arbeit selbständig wähle und lerne pflichtmässige Arbeit freiwillig tun; und als Lebensfreiheit, dass er in diesen Jahren studentischer Ungebundenheit und Rücksichtslosigkeit sich vorbereite auf die freiwillige und doch nicht sklavische Unterwerfung unter die Sitte, soweit sie vernünftig und soweit sie sittlich ist. Bei alledem müssen freilich „Jünglinge gewagt werden, um Männer zu werden.“ Aber auf alle Gefahr hin: auf dieser Freiheit beruht der tief sittliche Wert und der ganze Reiz unseres deutschen Studentenlebens.

Die Träger dieses Lebens nach aussen hin waren lange Zeit fast ausschliseslich die farbentragenden Verbindungen. Neuerdings tritt ihnen eine andere Form, die freie Studentenschaft, gegenüber. Sie repräsentiert die Gegenwartsgedanken: die Notwendigkeit des Erwerbs einer allgemeinen, auch künstlerischen Bildung, sozialen Geist und soziale Leistungen, Pflege des Sports, das demokratische Element und das allgemeine. Wahlrecht auch auf studentischem Boden. Damit stehen sie zu der Romantik der Farbentragenden von gestern als die Vertreter des Realismus von heute in ausgesprochenem Gegensatz. Auf absehbare Zeit hin aber werden sich diese beiden Elemente, das romantische und das moderne, auf unseren deutschen Hochschulen nebeneinander behaupten und sich hin und her zu vertragen haben. Schwierigkeit macht nur die Frage, wer zu der freien Studentenschaft gehören soll. Alle, wie diese selber beansprucht und sich als Vertretung aller nichtinkorporierten Studenten fühlt, oder nur diejenigen, welche ausdrücklich von ihr vertreten sein wollen? Einstweilen erkennen die akademischen Behörden nur das letztere an, und es wird Sache der Freistudentenschaft sein, durch das, was sie bietet und das, was sie leistet, soviel Anziehungs- und Werbekraft zu entfalten, dass die meisten Nichtinkorporierten sich ihr anschliessen und sie als ihre Vertreterin betrachten; sonst ist die Gefahr, dass sie eben wieder nur eine Korporation wird neben und unter den anderen. Einsiedler und einsame Menschen wird es freilich auch unter den Studenten immer geben.

Die studentischen Korporationen sind nach den verschiedensten Gesichtspunkten gebildet – zur Pflege des nationalen Gedankens oder des studentischen Geistes oder heiterer Geselligkeit; es sind Turnvereine und Gesangvereine; auch wissenschaftliche Fachvereine sind darunter. Schon in diesen letzteren zeigt sich eine gewisse Einseitigkeit, das sogenannte Fachsimpeln wird hier fast zur Notwendigkeit und zur Pflicht. Ganz vom Übel aber sind die konfessionellen Vereine, die als katholische Studentenverbindungen auf unseren Hochschulen immer zahlreicher und immer zielbewusster werden. Von ihnen urteilt Kaufmann:[1] sie „entziehen einen erheblichen Teil der Studierenden katholischer Konfession dem näheren Verkehr mit ihren evangelischen Kommilitonen, was um so mehr zu bedauern ist, da durch die Ausbildung des theologischen Konvikts bereits die katholischen Theologen dem freien Verkehr mit den übrigen Studenten entzogen sind; diese Entwicklung ist durch den Duellzwang der meisten Korporationen gefördert, aber im ganzen ist sie ein Zeichen der Abkehr unserer Tage von dem Geiste der Gemeinschaft der Konfessionen.“ Sie sind aber, füge ich hinzu, auch eine nationale Gefahr, weil sie den für unser konfessionell zerteiltes Vaterland so notwendigen modus vivendi der Konfessionen unter einander erschweren und ihr Miteinanderleben und sich Zusammenfühlen schon in der Jugend und von Jugend an hintertreiben. Man kann daher nur wünschen, dass sie wieder verschwinden; nur freilich verbieten soll man sie nicht; das würde sie nur zu Märtyrern machen und eher stärken, als ihnen das Wasser abgraben. Und auch der Widerstand der antiklerikalen Studentenschaft selber hat nicht zu dem gewünschten Ziele geführt: die katholischen Korporationen blühen nach wie vor weiter und sind zahlreicher als je. Wohl aber mindert diese von Bischöfen, Parteimännern und theologischen Fakultäten geförderte Studentenabsonderung in konfessionellem Sinn den nationalen Wert, der den theologischen Fakultäten zugemessen wird, und untergräbt damit diesen auf die Dauer doch selber den Boden ihrer Existenz im Rahmen unserer Universitäten.


  1. Kaufmann a. a. O. S. 231.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/156&oldid=- (Version vom 21.11.2021)