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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Reichsinländer, abgesehen von gewisser nur innerdeutscher Abschiebung wiederholt bestrafter Bettler und Landstreicher oder nahrungslos neu Anziehender.[1] Ein polizeiliches Kreuz sind die Zigeuner, der Race nach fremd, aber dennoch manchmal rechtlich Deutsche; man pflegt ihnen das Ziehen in Horden, das Lagern im Freien ohne Wagen oder auf nicht angewiesenem Platz zu verbieten, ihre Ausweise für die Aufenthaltsdauer zu hinterlegen, auch in bezug auf Wehr- und Schulpflicht genaue Kontrolle zu üben und unter Umständen die Kinder durch Zwangserziehung dem Nomadenleben zu entreissen.

2. Verkommene Personen (Prostituierte, Zuhälter, Trunksüchtige, Wilderer, Rowdis etc.), in deren Kreis die nach R.St.G.B. § 361 Ziff. 3–8 Bestraften eine odiös privilegierte rechtliche Sonderstellung haben, und Delinquenten von schwereren Fällen, insbesondere zur Polizeiaufsicht Verurteilte (s. oben III Abs. 2), bilden zusammen mit psychisch Verdächtigen von motorischer Anlage einen Kreis, dem für zu erwartende oder aufzuklärende Rechtsbrüche sich selbstverständlich das polizeiliche Auge zuwendet. Besondere Rechtsbefugnisse bestehen aber meist nur in wenigen, geregelten Hinsichten; bezüglich der Polizeiaufsicht ist dabei zu bemerken: ihre Ausübung bleibt trotz des urteilsmässigen Ausspruchs fakultativ und sollte, um das Fortkommen nicht zu schädigen, so schonend wie möglich geschehen, besser manchmal durch Fürsorger aus den Schutzvereinen, als durch Polizisten, deren Erscheinen einen Stellenverlust des zu Rehabilitierenden bedeuten kann. Ihre Wirkungen für den Inländer (Möglichkeit des Aufenthaltsverbots an einzelnen Orten, der Haussuchung bei Nacht[2]) bedeuten an sich weniger, als jenes Erscheinen oder die Arbeitsbehinderung durch Meldungsauflagen.

3. Das Feld der politischen Polizei ist bei der grundsätzlichen Zulässigkeit jeder Opposition an sich im modernen Staat beschränkt. Sie hat strafbaren Handlungen vorzubeugen, aber nicht nur solchen, welche nach schulmässiger Einteilung Delikte gegen den Staat oder vager politische heissen, und nicht bloss der Verübung, sondern auch der Vorbereitung. Selbstverständlich wendet sie sich hierzu jeweils demjenigen Personenkreise zu, welcher die bestehende staatsgesetzliche Ordnung in gefährlicher Weise bekämpft. Wenn auch „Gesinnungsschnüffelei“ durchweg auszuschliessen ist, so muss sie über Leiter und Massenbedeutung solcher Kampfgruppen unterrichtet sein, was nur bei öffentlichen Vorgängen leicht ist; die Befugnis, solchen Versammlungen anzuwohnen, auch aus zureichendem Grund sie aufzulösen, bietet zu Information und Vorkehr eine wichtige Handhabe.[3] Auch pflegt die Polizei aufreizende Demonstrationen zu verbieten. Die Nichtduldung verbotener, auch nur verbaler Ausschreitung, die Verhütung gar der Gewalttätigkeit, ist ihr Zweck bei solchen Massnahmen.

Eine besondere Stellung in diesem Kreise nehmen die Anarchisten ein, welche sich zwar in theoretische Richtungen und in die Propaganda der Tat teilen, aber programmatisch alle die Vernichtung des Staats überhaupt, nicht nur einer bestimmten – etwa monarchischen oder gesellschaftlichen – Ordnung beziehen.[4] Ihre besondere Gefährlichkeit wird illustriert durch


  1. Näheres bei Meyer-Dochow, Deutsches Verwaltungsrecht § 35. Nur der erste Fall gehört dem staatlichen Sicherheitspolizeirecht, der zweite (Gemeindebefugnis), im Freizügigkeitsgesetz geordnet, virtuell dem Armenrecht an. Der Staat, in welchem Angehörigkeit, Heimatsrecht oder Unterstützungswohnsitz besteht, kann nicht abschieben. Einige Staaten veröffentlichen Ausweisungsstatistiken. In Baden z. B. (statist. Jahrb. 37 S 580) wurden im Jahrzehnt 1898/1907 durchschnittlich jährlich ausgewiesen aus dem Staatsgebiet: nach § 3 des Freizügigkeitsgesetzes Deutsche 1040 und nach dem badischen Aufenthaltsgesetz Ausländer 437, aus dem Reichsgebiet nach R.St.G.B. § 38 bezw. 362 Ausländer 2+15. Über solche Ausweisungen aus letzterem gibt auch die Reichskriminalstatistik Auskunft.
  2. Vgl. übrigens weiter Gew.O. §§ 43, 57, 62, St.P.O §§ 103–6, 113.
  3. Vgl. Reichsvereinsgesetz §§ 13, 14 und wegen der Vereine § 2 (Auflösung, wenn der Zweck den Strafgesetzen zuwiderläuft).
  4. Das Mitglied Friedeberg definierte 1906 das Programm dahin: „Gesetzlosigkeit, Religionslosigkeit, Vaterlandslosigkeit, Antimilitarismus, direkte Aktion, anarchosozialistischer Generalstreik, Zertrümmerung der kapitalistischen Ordnung und Beseitigung des Klassenstaats.“ Welcher Staat könnte aber gesetzlos sein?
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/192&oldid=- (Version vom 1.12.2021)