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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Armen werden andere Volksschichten benachteiligt und der Armut näher gebracht. Alle Armenpflege schafft an anderer Stelle die Armut, der sie an der einen abhilft.

So kann auch die Arbeit nicht als Form der Unterstützung in Betracht kommen. Die Beschäftigung, die ich den Bedürftigen zuweise, nehme ich dem freien Arbeiter fort. Sind alle Arbeitsplätze besetzt – wie dies je nach dem die segensreiche oder unheilvolle Folge der Bevölkerungsbewegung ist –, so ist keine Vermehrung der Arbeitsgelegenheit möglich; sie wird stets nur eine Verschiebung der Arbeit herbeiführen, die das Mass der Armut, die Zahl der Armen nicht vermindern kann. Die Armut mit Not und Elend ist wie das unentbehrliche Hemmnis zu rascher Vermehrung so zugleich der nützliche Ansporn jedes Fortschrittes.

Daraus ergibt sich als Ziel der Armenpolitik, möglichste Verminderung der Armenpflege. Man mag immerhin jenen Ausscheidungsprozess in seinen Formen ein wenig mildern, auf keinen Fall darf man ihm aufhalten oder mindern. Daher Beseitigung staatlicher Armenpflege, vorsichtige Beschränkung des gefährlichen Triebes freier Mildtätigkeit. Diese Gedankengänge haben nicht nur die Armengesetzgebung Englands, sondern der meisten Staaten gestalten helfen; in den Beratungen der Armengesetze des Deutschen Deiches ertönen sie um 1870 noch ebenso, wie in denen des englischen Armengesetzes von 1834.

Im tiefsten Grunde liegt unter solchen Gedankengängen die Anschauung, dass die Armen als Ergebnis einer im grossen und ganzen sehr zweckmässigen Auslese aus der Gesellschaft ausgeschieden würden, dass sie minderwertig, vielleicht wertlos seien. Diese Ansicht hat seit Malthus selbst dort stark eingewirkt, wo man dem Mitleid, der christlichen Liebe und ähnlichen Antrieben auf die Gestaltung der Armenpflege reichlichen Einfluss zugestand.

Aus der Tatsache, dass die Armen der wirtschaftlich unfähige Teil der Gesellschaft sind, wird hierbei ohne weiteres geschlossen, dass sie im allgemeinen minderwertig seien. Allein Unwirtschaftlichkeit ist ein sehr verwickelter Begriff, der sich aus den verschiedensten Teilen zusammensetzt und sehr wesentlich von der psychologischen Verfassung des jeweiligen Wirtschaftssystems beeinflusst wird. Ist Wirtschaftlichkeit in unserem Sinn die Gesamtheit der Fähigkeiten, durch die sich der einzelne selbständig in irgend einem Wirtschaftssystem erhalten kann, und ist Verarmung die Folge der Unwirtschaftlichkeit, so beruht jene ältere Beurteilung der Armut darauf, dass die Wirtschaftlichkeit für die höchste aller gesellschaftlichen Tugenden angesehen, also bedenklich überschätzt wird, und dass die Unwirtschaftlichkeit für einen eindeutigen Begriff, der gesellschaftlich auf jeden Fall und unter allen Umständen verwerflich sei. Jener erste Fehler vergisst, dass wirtschaftliche Entwicklung ohne höhere geistige Entwicklung aller Art nicht denkbar ist, dass für den Gesamtfortschritt der Menschheit die geistigen Güter einen entscheidenden Wert besitzen, dem sich die wirtschaftlichen als Hilfsmittel unterordnen müssen. Vielfach widerstreiten höhere geistige Anlagen stark der Wirtschaftlichkeit und bilden sich oft nur unter Zurückdrängung wirtschaftlicher Erwägungen aus. Die grosse Masse der Bevölkerung aber wird kaum je in solchem Umfange für die Sicherheit ihrer wirtschaftlichen Existenz sorgen können, dass bei voller Ausbildung der Wirtschaftlichkeit wie wir sie oft wünschen genügend Kraft und Zeit für höhere Ausbildung übrig bliebe. Höhere Bedürfnisse können hier, wenn sie überhaupt einigermassen zur Geltung kommen sollen, wodurch doch allein ein Aufsteigen dieser Schichten möglich wird, nur auf Kosten wirtschaftlicher Erwägungen befriedigt werden, ein Verfahren, das nicht selten dann zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten, ja zur Verarmung führt. Bei der Beurteilung der Verarmung als gesellschaftlicher Erscheinung darf man dies nicht ausser acht lassen. Bestimmte Volksschichten werden je nach ihrer wirtschaftlichen Lage nur ein ganz bestimmtes Mass an Wirtschaftlichkeit leisten können und dürfen – wenn man von einzelnen Ausnahmen absieht. Würde ihr wirtschaftlicher Blick sämtliche Wechselfälle der Zukunft mit in Betracht ziehen, so würde mit diesem Mass an Unsicherheit jeder Mut und jede Lebenslust erstickt werden.

Die Unwirtschaftlichkeit ist aber abgesehen von ihrem Verhältnis zu den höheren Fähigkeiten des Menschen auch in sich mehrdeutig. Die Fähigkeit zu gütererzeugender Tätigkeit, die Fähigkeit diese Tätigkeit zum Erwerb für sich selbst zu benutzen, die richtige Verwendung des Erworbenen im eigenen Haushalt, das sind drei verschiedene Fähigkeiten, die in höchst verschiedenem Masse beim einzelnen vorhanden sind. Die Unwirtschaftlichkeit in jeder dieser einzelnen Richtungen kann

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/206&oldid=- (Version vom 4.12.2021)