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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

siegte mit dem Strafgesetzbuch von 1851 der französische Geist über den deutschen. Und als im Jahre 1868 der damalige Geheime Oberjustizrat und spätere Justizminister Dr. Friedberg, der mit der Aufstellung des ersten Entwurfs eines Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund beauftragt war, seinen Vorschlägen das preussische Strafgesetzbuch zugrundelegte, da war es entschieden, dass auch das neue Deutsche Reich die von Napoleon I. dem Gesetzgeber vorgezeichneten Richtlinien nicht verlassen werde.

Unser Strafgesetzbuch für das neue Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 war an dem Tage völlig veraltet, als es ins Leben trat. Und mit jedem neuen Jahre musste sich dem Rechtsbewusstsein des Deutschen Volkes deutlicher die Überzeugung aufdrängen, dass eine gründliche Umgestaltung notwendig sei, um die Strafgesetzgebung mit unseren deutschen rechtlich-sittlichen Anschauungen und mit den Bedürfnissen unseres heutigen Rechtslebens in Einklang zu bringen.

Den Gesetzbüchern aus dem Ende des achtzehnten und dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts war die grosse Aufgabe zugefallen, die geschichtlichen Ideen der Aufklärungszeit durchzuführen und auf den Trümmern des gemeinen Strafrechts ein neues System aufzubauen. Politisch bedeuteten sie die Überwindung des absolutistischen Polizeistaates durch die konstitutionelle, von dem beherrschenden Einfluss kirchlich-religiöser Ideen befreite, Monarchie. Daher das für diese Periode kennzeichnende Streben, die Freiheit des Staatsbürgers gegen die Willkür des beamteten Strafrichters zu schützen. Sorgfältig wurden die Tatbestände von einander abgegrenzt, an die die strafrechtliche Reaktion des Staats anknüpfen sollte; sorgfältig die Strafrahmen festgelegt, innerhalb deren diese Reaktion sich bewegen durfte. Nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege: Das ist der Grundgedanke des Rechtsstaates, übertragen auf das Gebiet des Strafrechts.

Dieser Grundgedanke wird nicht wieder verloren gehen, so lange der Rechtsstaat besteht. Aber die Aufgabe des modernen Staates wird durch diese eine Forderung nicht erschöpft. Der Rechtsstaat der Gegenwart ist Kulturstaat, und als solcher Verwaltungsstaat. Auf der festen Grundlage und innerhalb der Schranken des Rechts verwaltet, schützt und mehrt er die Kulturgüter des Volkes.

Damit hat sich aber die Auffassung von den Aufgaben des Strafrechts geändert. Nach wie vor soll das Strafgesetzbuch die magna charta des Verbrechers sein; aber innerhalb der so der Staatsgewalt gesteckten Grenzen fällt der Strafe der weitere Aufgabe zu, die Kulturgüter des Volkes, wie sie durch die Rechtsordnung anerkannt sind, gegen die Angriffe des Verbrechers zu schützen. Das vielgebrauchte Schlagwort „Bekämpfung des Verbrechens“ bringt diesen Gedanken zum scharfen Ausdruck. Es proklamiert den Bruch mit dem Prinzip des „laissez faire, laissez aller“, das die ältere konstitutionelle Theorie auf allen Lebensgebieten der menschlichen Gesellschaft, auch auf dem der Strafgesetzgebung, beherrschte.

In diesem Zusammenhang erklärt und rechtfertigt sich die geänderte Problemstellung; in ihm gewinnt aber auch der Kampf der strafrechtlichen Schulen, der heute bereits die unmittelbare Bedeutung eingebüsst hat, seine geschichtliche Stellung: Es ist der Kampf zwischen den Vertretern des altliberalen „Nichts- als -Rechtsstaates“ und den Vorkämpfern des von sozialpolitischen Forderungen erfüllten und bewegten Verwaltungsstaates.

Das Problem, das dem Strafgesetzgeber gestellt wird, erschöpft sich nicht mehr in der sorgfältigen Paralellisierung von Verbrechen und Strafe. Zwei neue, untereinander auf das engste zusammenhängende Aufgaben treten hinzu. Erfolgreicher Kampf gegen das Verbrechen setzt zunächst die Kenntnis der Ursachen voraus, aus denen das Verbrechen erwächst; er verlangt aber weiter, dass die Mittel zur Bekämpfung des Verbrechens diesem ihren Zweck entsprechend ausgestaltet werden, um das Verbrechen in seinen Wurzeln zu treffen. So entsteht die Forderung nach zwei neuen Wissenschaften, die neben und über dem Strafrecht stehen und dem Gesetzgeber das unentbehrliche Rüstzeug liefern sollen: Kriminalätiologie und Kriminalpolitik.

II. Der Kampf um die Reform der Strafgesetzgebung.

Die beiden Betrachtungsweisen, die kausale Betrachtung des Verbrechens wie die teleologische Betrachtung der Strafe, finden sich bereits bei den Schriftstellern der Aufklärungszeit. Statt aller anderen sei auf Montesquieu’s „Geist der Gesetze“ (1748) hingewiesen. Wissenschaftlich befestigte

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/212&oldid=- (Version vom 4.12.2021)