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Ergebnisse konnten jene Erörterungen jedoch nicht zutage fördern, da es dem achtzehnten Jahrhundert an den auch hier unentbehrlichen sicheren Methoden fehlte. Diese hat erst das neunzehnte Jahrhundert geschaffen. Zuerst durch die Anwendung der systematischen Massenbeobachtung auf das Gebiet der Kriminalität, also durch die Schaffung einer zuverlässigen Kriminalstatistik. Ihre Entwicklung wird durch die Namen Quetelet († 1874), Alexander von Oettingen († 1905) und Georg von Mayr (Professor in München) gekennzeichnet. Dann aber durch die naturwissenschaftliche Untersuchung des einzelnen Verbrechers, also durch Ausbildung einer Kriminalanthropologie. Diese knüpft, wenn wir von zahlreichen deutschen und ausserdeutschen Vorläufern absehen, insbesondere an den Namen Lombroso’s († 1909) an, dessen Hauptwerk, der „nomo delinquente“, in den siebziger Jahren der Öffentlichkeit übergeben wurde. Durch die Zusammenfassung dieser beiden gleich wichtigen Zweige der Kriminalätiologie, wie sie zuerst in der neueren deutschen Strafrechtswissenschaft vollzogen worden ist, wurde erst die Aufstellung eines Systems der Kriminal-Politik möglich gemacht. Für diese ergab sich von allem Anfang an nach zwei Richtungen hin eine wesentliche veränderte Auffassung der Strafe. Einmal drängte sich unabweislich die Erkenntnis auf, dass die letzten Wurzeln des Verbrechens, mögen sie in den gesellschaftlichen Verhältnissen, mögen sie in der körperlich-geistlichen Eigenart des Verbrechers überwiegend liegen, durch die Strafe überhaupt nicht getroffen werden, dass mithin die Strafe nicht das einzige Mittel zur Bekämpfung des Verbrechens, sondern nur eines dieser Mittel, und lange nicht das wichtigste ist. Dann aber machte sich die Forderung geltend, dass die Strafe, wie sie im geltenden Recht angedroht und vollstreckt wird, einer durchgehenden Umgestaltung bedürfe, wenn sie ihren Zweck, der Bekämpfung des Verbrechens auf dem ihr auch für die Zukunft eigenen Gebiete zu dienen, auch wirklich erreichen wolle.

Die deutschen Wissenschaft ist stets bereit gewesen, die Anregungen dankbar anzuerkennen, die sie durch ausserdeutsche Forscher empfangen hat. Sie hat aber auch das Recht wie die Pflicht, die ihr gebührenden Verdienste für sich in Anspruch zu nehmen. Es ist eine gröbliche Entstellung geschichtlich feststehender Tatsachen, wenn, wie das von Gretener behauptet und von anderen nachgesprochen worden ist, die deutsche Reformbewegung auf den Einfluss der Italiener zurückgeführt wird. Ich sehe hier ganz davon ab, dass die italienische Kriminalanthropologen, mit ihnen auch der erst seit den achtziger Jahren literarisch tätige Enrico Ferri, anfänglich einseitig den individuellen Faktor des Verbrechens in den Vordergrund gestellt und erst allmählich dem gesellschaftlichen Faktor die volle Gleichberechtigung zugestanden haben. Entscheidend ist vielmehr, dass, lang ehe in Italien die kriminalanthropologische Richtung entstanden war, deutsche Schriftsteller die Grundlage für das System der Kriminalpolitik gelegt hatten. Ich nenne von ihnen an dieser Stelle nur Franz von Holtzendorff († 1889) und meinen Lehrer, den (1901 verstorbenen) Wiener Professor Wilhelm Wahlberg, dessen Hauptwerk schon im Jahre 1869 erschienen ist. An Wahlbergs Unterscheidung von Gewohnheits- und Gelegenheitsverbrechern knüpft meine Einteilung der Verbrecher und damit mein ganzes kriminalpolitisches System an; nicht aber, soviel ich ihnen auch zu danken habe, an die Lehren Lombroso’s oder Ferri’s. Es sei weiter hingewiesen auf Rudolf v. Ihering († 1892), dessen „Zweck im Recht“ (1877) auf mich, wie auf gar manchen unter den Jüngeren der damaligen Kriminalisten, von bestimmendem Einfluss geworden ist.

Der Kampf gegen die bestehende Strafgesetzgebung war in Deutschland bereits 1879 auf der ganzen Linie entbrannt. Der Reichsgerichtsrat Mittelstädt hatte in flammenden Worten das herrschende System angegriffen; der damals vierundzwanzigjährige Psychiater Kräpelin schon 1880 die Abschaffung des Strafmasses und damit den Neubau der Kriminalpolitik in rücksichtsloser Folgerichtigkeit gefordert. Ende 1880 wure von A. Dochow († 1881) und mir die „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft“ ins Leben gerufen, die schon durch ihren Titel die Notwendigkeit betonte, über die bloss logisch-juristische Betrachtung von Verbrechen und Strafe hinauszukommen. 1882 erschien mein Marburger Programm „Der Zweckgedanke im Strafrecht“, das die sofort und unbedingt zu erfüllenden Forderungen in dem Satz zusammenfasste: „Unschädlichmachung der Unverbesserlichen, Besserung der Besserungsfähigen.“ Von da an brachte jedes Jahr eine unerwartet rasche Ausbreitung der Reformbewegung; und zwar in Deutschland wie in den übrigen Ländern.

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/213&oldid=- (Version vom 4.12.2021)