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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

oder dem Staatssekretär des Reichskanzleramts für Elsass-Lothringen fehlte es auch nicht und obwohl der Oberpräsident die Verhältnisse des Landes und die Bedürfnisse der Verwaltung aus unmittelbarer Anschauung und Erfahrung kannte und in vielen Fällen gewiss besser würdigen konnte als die Reichsbehörden in Berlin, so war doch seine Stellung dem Reichskanzler gegenüber die schwächere, teils weil er dem Reichskanzler untergeordnet war, teils weil dieser Mitglied des Bundesrats und des preussischen Ministeriums war und den unmittelbaren Vortrag beim Kaiser hatte. Es war begreiflich, dass der Oberpräsident eine Stärkung seiner Position anstrebte.

Das Mittel, welches er zu diesem Zwecke anwandte, erschien anfangs sehr harmlos, führte aber sehr bald eine eingreifende Umgestaltung der Verfassung des Reichslandes und den Sturz des Oberpräsidenten selbst herbei. Durch den Allerhöchsten Erlass vom 29. Oktober 1874, also kaum 10 Monate nach dem Inkrafttreten der Reichsverfassung, wurde nominell der Reichskanzler, in Wahrheit der Oberpräsident, ermächtigt, „um die Verwaltung bei der Vorbereitung der Landesgesetze durch die Erfahrung und Sachkunde von Männern beraten zu sehen, welche durch das Vertrauen ihrer Mitbürger ausgezeichnet sind, in Zukunft Entwürfe von Gesetzen über solche Angelegenheiten, welche der Reichsgesetzgebung durch die Verfassung nicht vorbehalten sind, einschliesslich des Landeshaushalts-Etats, einem aus Mitgliedern der Bezirkstage zu bildenden Landesausschusse zur gutachtlichen Beratung vorzulegen, ehe sie den – – zuständigen Faktoren der Gesetzgebung zur Beschlussfassung zugehen“. Auch durfte die gutachtliche Äusserung jener Versammlung über Verwaltungsmassregeln allgemeiner Bedeutung, welche nicht gesetzlich der Beratung oder Beschlussfassung der Bezirkstage unterliegen, vernommen werden. Die zur Beratung bestimmten Vorlagen gingen dem Landesausschusse durch den Oberpräsidenten zu, welcher den Sitzungen beiwohnen und sich durch Kommissare vertreten lassen durfte. Der Oberpräsident und seine Vertreter mussten auf Verlangen jederzeit gehört werden. Die abzugebenden Gutachten, welche die Beschlüsse der Plenarversammlung und die Begründung derselben, sowie die in der Minderheit gebliebenen Ansichten, enthalten sollten, wurden in beglaubigter Ausfertigung dem Oberpräsidenten durch den Vorsitzenden zugestellt.

Durch die Bildung des begutachtenden Landesausschusses wurde weder an dem reichsverfassungsmässigen Wege der Landesgesetzgebung, noch an der Zuständigkeit des Reichskanzlers und der Reichsämter eine Veränderung bewirkt; aber der Oberpräsident konnte seine Vorschläge und Anträge durch Beifügung eines zustimmenden Gutachtens des Landesausschusses gegenüber den vom Reichskanzleramt oder dem Preussischen Ministerium erhobenen Bedenken wirksam unterstützen. Die Entwicklung schritt aber schnell weiter fort. War erst eine Körperschaft zur Beratung von Landesangelegenheiten aus Männern gebildet worden, „welche durch das Vertrauen ihrer Mitbürger ausgezeichnet sind“, so war damit der Grundgedanke einer Vertretung der elsass-lothringischen Bevölkerung gegeben und es konnte nicht ausbleiben, dem Landesausschuss die regelmässigen Rechte einer Volksvertretung beizulegen. Schon nach Verlauf von kaum 2½ Jahren durch das Reichsgesetz vom 2. Mai 1877 wurde bestimmt, dass bei den Landesgesetzen für Elsass-Lothringen, einschliesslich des Landeshaushalts-Etats die Zustimmung des Reichstags durch die Zustimmung des Landesausschusses ersetzt werden kann. Es wurde zwar die Erlassung von Landesgesetzen im Wege der Reichsgesetzgebung vorbehalten; aber es war dies nur ein Notbehelf, von dem nur Gebrauch gemacht werden sollte, wenn es sich darum handelte, einen unberechtigten Widerstand des Landesausschusses oder eine Budgetverweigerung desselben zu brechen. Bei der Haltung der Majoritätsparteien des Reichstages war auch die Aussicht gering, dass ein vom Landesausschuss abgelehntes Gesetz vom Reichstage angenommen werden würde, wenn dies nicht wegen dringender Interessen des Reichs geboten schien. Für den regelmässigen Weg der Landesgesetzgebung, die Feststellung des Landeshaushaltsetats und die Rechnungsprüfung und Entlastung war der Reichstag ausgeschaltet und der Landesausschuss an seine Stelle getreten. Damit hatte der letztere die wichtigsten und wesentlichsten Rechte einer Volksvertretung erhalten. Mit dieser Stellung des Landesausschusses war es nun aber unverträglich, dass die obersten Verwaltungsbehörden für die Landesangelegenheiten, der Reichskanzler und das Reichskanzleramt für Elsass-Lothringen und das Reichsjustizamt ihren amtlichen Wohnsitz in Berlin hatten. Mit dem Landesausschuss verhandelten lediglich der Oberpräsident und die Räte des Oberpräsidiums als seine Kommissare, die

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/221&oldid=- (Version vom 14.9.2022)