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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

man brauchte ja nur, wie dies bereits in anderen Fällen geschehen war, zu einer Fiktion zu greifen und den Satz aufzustellen: Das Reichsland gilt als Bundesstaat.

Aber nun kamen die praktischen Schwierigkeiten: Zunächst erhob sich die Frage, wer die reichsländischen Bevollmächtigten instruieren solle. Da der Kaiser die Staatsgewalt in Elsass-Lothringen ausübt, so wäre die von selbst gegebene, sozusagen natürliche Antwort gewesen: der Kaiser. Aber dies hätte Folgen gehabt, die man vermeiden wollte. Entweder hätte nämlich der Kaiser die elsass-lothringischen Stimmen in dem gleichen Sinne wie die preussischen instruiert; alsdann wären die drei elsass-lothringischen Stimmen den preussischen zugewachsen, das Stimmenverhältnis der Reichsverfassung wäre zu Gunsten Preussens verändert worden und der Einfluss der preussischen Regierung auf die elsass-lothringische hätte eine neue verfassungsrechtliche Grundlage erhalten. Oder der Kaiser hätte auf den Antrag der elsass-lothringischen Regierung die reichsländischen Stimmen im entgegengesetzten Sinne wie die preussischen abgeben lassen; dann hätte er gegen sich selbst gestimmt, sein Votum als König von Preussen durch sein Votum als Kaiser teilweise aufgehoben; das wäre lächerlich und mit der Würde des Kaisers unvereinbar gewesen. Den Ausweg aus diesem Dilemma fand man darin, dass der Statthalter den elsass-lothringischen Bundesratsbevollmächtigten die Instruktion erteilt. Dadurch wurde einerseits die Zahl der preussischen Stimmen formell nicht erhöht, andrerseits der Missstand vermieden, dass der Kaiser gegen den König von Preussen, also gegen sich selbst stimmt.

Aber man konnte sich nicht verhehlen, dass dies nur eine formelle Abhilfe ist; der Statthalter kann in wichtigen Fragen seinem kaiserlichen Herrn nicht Opposition machen; er kann nicht – z. B. beim Abschluss von Handelsverträgen und anderen Angelegenheiten von wirtschaftlicher Bedeutung – andere Tendenzen verfolgen wie der Reichskanzler; er hat nicht die Stellung eines Landesherrn, sondern die eines kaiserlichen Ministers. Es war daher das schwierige Problem zu lösen, Elsass-Lothringen Stimmen zu gewähren, ohne dadurch tatsächlich die preussischen Stimmen im Bundesrat zu vermehren. Dieses Problem ist im Gesetz vom 21. Mai 1911 in der Art gelöst worden, dass die elsass-lothringischen Stimmen nicht gezählt werden, wenn durch sie Preussen die Majorität oder wegen Stimmengleichheit den Stichentscheid erhalten würde und dass andererseits sie gegen eine von Preussen beantragte oder befürwortete Verfassungsänderung nicht zur Bildung der 14 Stimmen, denen ein Veto zusteht, dienen können. Sie werden also nur gezählt, wenn Preussen ohne sie bereits die Majorität der Bundesratsstimmen für sich hat oder wenn durch sie – was tatsächlich wohl niemals vorkommen wird – eine Majorität gegen die preussischen Stimmen hergestellt wird. Ein Statthalter, welcher ein solches Resultat herbeiführt und seinen Kaiser niederstimmt, dürfte wohl nicht mehr lange im Amt bleiben. Der politische Wert der elsass-lothringischen Stimmen ist daher problematisch und in keinem Falle gross; dagegen kann es unter Umständen für die Geltendmachung besonderer elsass-lothringischer Interessen, z. B. der Feststellung der Übergangssteuer für Bier, vom Nutzen sein, dass die elsass-lothringische Regierung in einem oder mehreren Bundesratsausschüssen vertreten ist, obgleich es auch bisher an Mitteln zur Wahrung dieser Interessen nicht gefehlt hat.

In dem Reichsgesetz vom 31. Mai 1911 haben diese Erwägungen folgende Fassung erhalten:

„Art. I. In die Reichsverfassung wird als Art. 6a folgende Vorschrift eingestellt:

Elsass-Lothringen führt im Bundesrate drei Stimmen, so lange die Vorschriften im Art. II § 1, § 2 Abs. 1 und 3 des Gesetzes über die Verfassung Elsass-Lothringens vom 31. Mai 1911 in Kraft sind.
Die elsass-lothringischen Stimmen werden nicht gezählt, wenn die Präsidialstimme nur durch den Hinzutritt dieser Stimmen die Mehrheit für sich erlangen oder im Sinne des Art. 7 Abs. 3 Satz 3 den Ausschlag geben würde. Das Gleiche gilt bei der Beschlussfassung über Änderungen der Verfassung.
Elsass-Lothringen gilt im Sinn des Art. 6 Abs. 2 und der Art. 7 und 8 als Bundesstaat.“

Durch das Gesetz vom 31. Mai 1911 sind demnach alle aus der Reichslandseigenschaft folgende Besonderheiten und Unterschiede der Stellung Elsass-Lothringens gegen die Bundesstaaten ausgeglichen und verschwunden bis auf zwei:

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/226&oldid=- (Version vom 14.9.2022)