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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

wurde die preussische Lokalverwaltung von den polnischen Organisationen überflügelt und irregeführt, sodass Bismarck im Jahre 1872 schrieb: „Ich habe das Gefühl, dass auf dem Gebiete unserer polnischen Provinzen der Boden unter uns, wenn er heute noch nicht auffällig wankt, doch so unterhöhlt wird, dass er einbrechen kann, sobald sich auswärts eine polnisch-katholisch-österreichische Politik entwickelt“, und dringend verlangte er Mittel, um gegen die „seit zehn Jahren prosperierende polnische Unterwühlung der Fundamente des preussischen Staats vorzugehen.“

Insbesondere rügte Bismarck, dass sich die Unterrichtsverwaltung infolge der Nachgiebigkeit des Kultusministeriums (Katholische Abteilung) zum Teil in den Händen der polnischen Aristokratie und der polnischen Geistlichkeit befinde, die ihren Einfluss zur Polonisierung deutscher Gebiete missbrauche.

5. Die preussische Schulpolitik.

Bis dahin galt das Schulregulativ vom 21. Mai 1842, das auf dem Grundgedanken ruhte, jedes Kind solle den Unterricht in seiner Muttersprache empfangen. In allen Landschulen sollten daher die Lehrer beide Sprachen beherrschen und anwenden. In Landschulen, welche vorherrschend von polnischen Kindern besucht wurden, sollte die polnische Sprache die Hauptunterrichtssprache sein.

Hier griff jetzt die Staatsverwaltung ein:

Durch das Schulaufsichtsgesetz vom 11. März 1872 wurde die Aufsicht über alle öffentlichen und privaten Schulen dem Staate zugewiesen. Durch königlichen Erlass vom 20. Oktober 1872 wurde in den höheren Lehranstalten der Provinz Posen der gesamte Unterricht (auch in der Religion) deutsch. Für die Volksschulen bestimmte eine Oberpräsidialverfügung vom 27. Oktober 1873, dass der Unterricht in allen Lehrgegenständen, mit Ausnahme der Religion, deutsch sein sollte, und auch für den Religionsunterricht, der vorläufig in der Muttersprache erteilt wurde, wurde der Schulverwaltung die Möglichkeit gegeben, „sobald die Kenntnis der deutschen Sprache so weit fortgeschritten sei“, die deutsche Sprache auch für den Religionsunterricht einzuführen.

Im Laufe der folgenden Jahrzehnte hat die Regierung von dieser Verfügung immer schärferen Gebrauch gemacht und schliesslich die deutsche Sprache faktisch zur alleinigen Unterrichtssprache erhoben.

Der Grundgedanke der Schulpolitik war: die Schule als Mittel der nationalen Eroberung zu benutzen. Ein kühner Gedanke, der in den 60er Jahren entstand, in jener Zeit, die das Wort fand von dem deutschen Schulmeister, der bei Königgrätz gesiegt habe. „Wer die Schule hat, hat die Jugend! Wer die Jugend hat, hat die Zukunft!“, so lautete das Schlagwort. Die deutsche Schule solle den Osten germanisieren; der deutsche Lehrer solle als Träger deutscher Bildung der polnischen Geistlichkeit gegenübertreten.

Dieser weitfliegende Gedanke hat sich nicht verwirklichen lassen. Es war ein Irrtum zu glauben, dass die deutsche Sprache und deutsche Kultur den Slaven gegenüber eine „werbende Macht“ habe. Vielmehr wirken auf das Geistesleben der Kinder die von Geistlichen in der Muttersprache gehaltenen Andachten und polnischen Gebete weit stärker als die Übungen und Daten der deutschen Schule. Ja gerade der Gegensatz zwischen deutscher Schule und polnischer Seelsorge erhöhte die Macht der Geistlichkeit, da das Volk jetzt voll empfand, dass es in der Kirche eine Zuflucht finde auch in nationalen Sorgen.

Gewiss war es zweckmässig, ja notwendig, in allen deutschen und gemischtsprechenden Gemeinden den Unterricht in deutscher Sprache zu erteilen, um die Polonisierung deutscher Kinder zu hindern. Der Fehler jedoch bestand darin, dass die Regierung in allzu starkem Glauben an die Wirkung der Schule zu weit ging. Sie hätte bedenken müssen – was Kenner des Ostens vorausgesagt haben –, dass in dem allmählich entstehenden wirtschaftlichen Kampf um die Ostmark die Kenntnis der beiden Sprachen ein Machtmittel ist. Deshalb hätte man weder die polnische Sprache als Unterrichtsgegenstand aus den höheren Schulen beseitigen, noch den Polen durch den Schulzwang das Mittel der wirtschaftlichen Überlegenheit aufzwingen dürfen.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/233&oldid=- (Version vom 14.9.2022)